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Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 5. Berlin/DDR. 1975. »Einführung in die Nationalökonomie«, S. 563-580.
1. Korrektur
Erstellt am 20.10.1998

Rosa Luxemburg - Einführung in die Nationalökonomie

I. Was ist Nationalökonomie? - 5.


|563| Manchmal wird uns die Nationalökonomie auch einfach so definiert: Sie sei »die Wissenschaft über die wirtschaftlichen Beziehungen der Menschen«. Diejenigen, die eine solche Formulierung geben, glauben die Klip- |564| pen der »Volkswirtschaft« und der Weltwirtschaft umschifft zu haben, indem sie das Problem ins Unbestimmte verallgemeinern und von der Wirtschaft »der Menschen« überhaupt sprechen. Die Sache wird indes durch dieses Hinüberspielen in die blaue Luft nicht klarer, sondern womöglich nur noch verworrener; denn nun entsteht die Frage, ob und weshalb denn eine besondere Wissenschaft über die wirtschaftlichen Verhältnisse »der Menschen«, also aller Menschen zu allen Zeiten und in allen Umständen, notwendig sein soll?

Greifen wir irgendein Beispiel beliebiger menschlicher Wirtschaftsverhältnisse heraus, ein möglichst einfaches und übersichtliches Beispiel. Versetzen wir uns in jene Zeit, wo die heutige Weltwirtschaft noch nicht bestand, wo der Warenhandel erst in den Städten florierte, auf dem platten Lande hingegen die Naturalwirtschaft, das heiße die Produktion für den eigenen Bedarf, so gut in den großen Grundherrschaften wie auf den kleinen Bauerngütern vorherrschte. Nehmen wir zum Beispiel die von Dugald Stewart in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts beschriebenen Verhältnisse in Hochschottland:

»In einigen Teilen von Hochschottland ... erschienen« - nach den statistischen Berichten - »viele Schafhirten und cotters mit Frau und Kind ... in Schuhen, die sie selbst gemacht aus Leder, das sie selbst gegerbt, in Kleidern, die keine Hand außer ihrer eignen angetastet, deren Material sie selbst von den Schafen geschoren oder wofür sie den Flachs selbst gebaut hatten. In die Zubereitung der Kleider ging kaum irgendein gekaufter Artikel ein, mit Ausnahme von Pfrieme, Nadel, Fingerhut und sehr wenigen Teilen des im Weben angewandten Eisenwerks. Die Farben wurden von den Weibern selbst von Bäumen, Gesträuchen und Kräutern gewonnen usw.«[1]

Oder nehmen wie ein Beispiel aus Rußland, wo noch vor verhältnismäßig kurzer Zeit, Ende der siebziger Jahre, die Bauernwirtschaft vielfach so beschaffen war:

»Der Grund und Boden, den er (der Bauer des Distrikts Wjasma im Gouvernement Smolensk) bebaut, liefert ihm Nahrung, Kleidung, fast alles, was zu seiner Existenz notwendig ist: Brot, Kartoffeln, Milch, Fleisch, Eier, Leinewand, Tuch, Schafpelze und Wolle zur warmen Kleidung ... Für Geld schafft er sich nur Stiefel an und einige Toilettenkleinigkeiten, wie Gurt, Mütze, Handschuhe, desgleichen einige notwen- |565| dige Hausgeräte: irdenes und hölzernes Geschirr, Feuerhaken, Kessel und dergleichen.«(1)

Heute noch gibt es solche Bauernwirtschaften in Bosnien und Herzegowina, in Serbien, in Dalmatien. Wollten wir einem solchen selbstwirtschaftenden Bauern von Hochschottland oder von Rußland, von Bosnien oder Serbien die üblichen professoralen Fragen der Nationalökonomie nach dem »Wirtschaftszweck«, der »Entstehung und Verteilung des Reichtums« und dergleichen vorlegen, so würde er sicher große Augen machen. Weshalb und zu welchem Zwecke ich und meine Familie arbeiten oder, wie sie sich gelehrt ausdrücken: welche »Triebfedern« uns zum »Wirtschaften« bewegen? würde er ausrufen: Nun, wir müssen doch leben, und gebratene Tauben fliegen uns nicht in den Mund. Wenn wir nicht arbeiten würden, dann müßten wir Hungers sterben. Wir arbeiten also, um uns durchzuschlagen, um uns satt zu essen, sauber zu kleiden und ein Dach über dem Kopfe zu haben. Was wir produzieren, »welche Richtung« wir unserer Arbeit geben? Wieder eine recht einfältige Frage! Wir produzieren, was wir brauchen, was jede Bauernfamilie zum Leben benötigt. Wir bauen Weizen und Roggen, Hafer und Gerste, setzen Kartoffeln, wir halten je nachdem Kühe und Schafe, Hühner und Enten. Im Winter wird gesponnen, was Sache der Weiber ist, wir Männer aber machen mit Axt, Säge und Hammer zurecht, was für das Hauswesen nötig. Nennen Sie das meinetwegen »Landwirtschaft« oder »Gewerbe«, jedenfalls müssen wir ein wenig von allem treiben, weil man allerlei im Hause und im Felde braucht. Wie wir diese Arbeiten »teilen«? Noch eine merkwürdige Frage! Die Männer machen selbstverständlich, was die männliche Kraft erfordert, die Frauen besorgen das Haus, die Kühe und den Hühnerhof, die Kinder helfen bei dem und jenem. Oder meinen Sie, ich sollte die Frau zum Holzfällen schicken und selbst die Kuh melken? (Der gute Mann weiß nicht - fügen wir unsererseits hinzu -, daß es bei vielen primitiven Völkern, zum Beispiel bei den brasilianischen Indianern, gerade die Frau ist, die in den Wald Holz sammeln, Wurzeln graben und Früchte pflücken geht, während bei den Hirtenvölkern in Afrika und Asien wiederum die Männer das Vieh nicht bloß warten, sondern auch melken. Auch kann man heute noch in Dalmatien die Frau schwere Lasten auf dem Rücken schleppen sehen, während der bärenstarke Mann daneben, behäbig auf dem Esel reitend, seine Pfeife schmaucht. Diese »Arbeitsteilung« erscheint alsdann |569| genauso natürlich, wie es unserem Bauern selbstverständlich erscheint, daß er das Holz fällt und seine Frau die Kühe melkt.) Und weiter: Was ich meinen »Reichtum« nenne? Das versteht doch wieder jedes Kind im Dorfe! Reich ist der Bauer, der volle Scheunen, [einen] gut gefüllten Kuhstall, eine ansehnliche Schafherde, einen großen Hühnerhof hat; arm ist wohl der, bei dem es schon um die Osterzeit knapp mit dem Mehl wird und in dessen Stube es bei Regenwetter durch das Dach tropft. Wovon hängt »die Vermehrung meines Reichtums« ab? Was ist denn da zu fragen? Wenn ich ein größeres Stück gutes Land hätte, so wäre ich natürlich reicher, und wenn im Sommer, was Gott verhüte, ein starkes Hagelwetter heruntergeht, so macht es uns in 24 Stunden alle miteinander im Dorfe arm.

Wir haben hier den Bauer geduldig auf die gelehrten Fragen der Nationalökonomie antworten lassen, doch sind wir sicher, daß, bevor der Professor, der mit Notizbuch und Füllfeder zu wissenschaftlichen Forschungen auf so einen Bauernhof in Hochschottland oder Bosnien gekommen, bei der Hälfte seiner Fragen angelangt wäre, er auch schon wieder zum Tor hinausspazieren müßte. In der Tat sind alle Verhältnisse einer derart beschaffenen Bauernwirtschaft so selbstverständlich einfach und durchsichtig, daß ihre Zergliederung mit dem nationalökonomischen Seziermesser wie eine müßige Spielerei anmutet.

Man kann uns freilich entgegenhalten, daß wir vielleicht das Beispiel unglücklich gewählt hätten, indem wir eine winzige, sich selbst genügende Bauernwirtschaft ins Auge fassen, in der allerdings die äußerste Einfachheit durch die kümmerlichen Mittel und Dimensionen bedingt ist. Nehmen wir also ein anderes Beispiel. Verlassen wir den kleinen Bauernhof, der irgendwo im weltvergessenen Winkel sein bescheidenes Dasein fristet, und richten wir den Blick auf die höchste Spitze eines gewaltigen Reiches, auf die Wirtschaft Karls des Großen. Dieser Kaiser, der zu Beginn des 9. Jahrhunderts das Deutsche Reich zum mächtigsten in Europa gemacht, der zur Vergrößerung und Befestigung seines Reiches nicht weniger denn 53 Kriegszüge unternommen und unter seinem Zepter außer dem heutigen Deutschland auch noch Frankreich, Italien, die Schweiz, den nördlichen Teil Spaniens, Holland und Belgien vereinigt hatte, war jedoch auf die ökonomischen Verhältnisse in seinen Gütern und Höfen sehr bedacht. Er hatte eine besondere Gesetzesurkunde über die Wirtschaftsgrundsätze seiner Höfe, bestehend aus 70 Paragraphen, eigenhändig verfaßt: das berühmte »Capitulare de villis«, das heißt Gesetz über die Gutshöfe, welche Urkunde als ein unschätzbares Kleinod der geschichtlichen Überlieferung |567| glücklich im Staub und Moder der Archive für uns erhalten worden ist. Sie beansprucht aus zwei Gründen ganz besondere Beachtung. Erstens sind aus den meisten Höfen Karls des Großen nachmals mächtige Reichsstädte geworden, so sind zum Beispiel Aachen, Köln, München, Basel, Straßburg und viele andere große Städte ehemals landwirtschaftliche Höfe Kaiser Karls gewesen. Zweitens aber wurden die Wirtschaftseinrichtungen Karls ein Vorbild für alle großen weltlichen und geistlichen Grundherrschaften des frühen Mittelalters; Karls Höfe nahmen die Überlieferungen des alten Roms und der verfeinerten Lebensweise seiner adligen Villen auf, um sie in das rohere Milieu des jungen germanischen Kriegsadels zu verpflanzen, und seine Vorschriften über den Weinbau, Gartenbau, Obst und Gemüsebau, die Geflügelzucht usw. waren eine kulturhistorische Tat.

Sehen wir uns nun die Urkunde näher an. Der große Kaiser fordert hier vor allem, daß man ihm redlich diene und daß für die Untertanen auf seinen Gütern gesorgt werde, so daß sie vor Armut geschützt sind; man solle sie nicht über die Kraft mit Arbeit belasten; wenn sie in die Nacht hinein arbeiten, sollen sie dafür entschädigt werden. Die Untertanen aber ihrerseits sollen rechtschaffen für den Weinbau Sorge tragen und den gekelterten Wein in Flaschen tun, damit er keinen Schaden nehme. Wenn sie sich ihren Pflichten entziehen, werden sie »auf dem Rücken oder anders« gezüchtigt. Ferner schreibt der Kaiser vor, daß man in seinen Gütern Bienen und Gänse züchten solle; das Geflügel soll gut gehalten und vermehrt werden. Man solle auch auf die Vergrößerung des Bestandes an Kühen und Zuchtstuten, desgleichen Schafen die größte Sorgfwenden.

Wir wollen, schreibt der Kaiser weiter, daß unsere Wälder mit Verstand bewirtschaftet werden, daß sie gar nicht ausgerodet und daß Sperber und Falken darin gehalten werden. Man solle zu unserer Verfügung stets fette Gänse und Hühnchen halten; Eier, die nicht in der Wirtschaft verbraucht werden, solle man auf dem Markt verkaufen. In jedem unserer Höfe soll ein Vorrat an guten Federbetten, Matratzen, Decken, Geschirr aus Kupfer, Blei, Eisen und Holz, Ketten, Kesselhaken, Beilen, Bohrern vorhanden sein, so daß nichts von anderen Leuten geborgt zu werden brauche. Der Kaiser schreibt weiter vor, man solle ihm genau von dem Ertrage seiner Güter Rechenschaft ablegen, und zwar wieviel von jedem Ding hervorgebracht wurde, und er zählt auf: Gemüse, Butter, Käse, Honig, Öl, Essig, Rüben »und andere Kleinigkeiten«, wie es im Text der berühmten Urkunde heißt. Weiter schreibe der Kaiser vor, auf jeder seiner Domänen sollen verschiedene Handwerker, in jeder Kunst beflissen, in genügender Anzahl vorhanden sein, und er zählt wieder die Arten genau im einzelnen |568| auf. Weiter bestimmt er den Weihnachtstag als die Frist, wo er alljährlich die Rechnungen seiner Reichtümer einfordert, und der kleinste Bauer zählt nicht wachsamer jedes Stück Vieh und jedes Ei in seinem Hof nach wie der große Kaiser Karl. Der 62. Paragraph der Urkunde besagt: »Es ist wichtig, daß wir wissen, was und wieviel wir von all den Dingen haben.« Und er zählt wieder auf: Ochsen, Mühlen, Holz, Schiffe, Weinreben, Gemüse, Wolle, Leinen, Hanf, Obst, Bienen, Fische, Häute, Wachs und Honig, alte und neue Weine und anderes, was ihm geliefert wird. Und er fügt zum Trost für die lieben Untertanen, die all das liefern sollen, treuherzig hinzu: »Wir hoffen, daß euch das alles nicht zu hart erscheinen wird, denn ihr könnt es ja eurerseits einfordern, da ja jeder auf seinem Gute Herr ist.« Weiter finden wir genaue Vorschriften über die Art der Verpackung und des Transports der Weine, die anscheinend eine besondere Regierungssorge des großen Kaisers ausmachten: »Man solle den Wein in Fässern mit festen Eisenleisten fahren und niemals in Schläuchen. Was das Mehl betrifft, so soll es in doppelten Karren und mit Leder gedeckt transportiert werden, so daß es über die Flüsse gebracht werden kann, ohne Schaden zu nehmen. Ich will auch, daß man mir genaue Rechenschaft gibt von den Hörnern meiner Böcke und Ziegen sowohl wie von den Häuten der Wölfe, die im Laufe jedes Jahres erlegt werden. Im Monat Mai solle man nicht verabsäumen, einen unerbittlichen Krieg den jungen Wölflein anzusagen.« Endlich im letzten Paragraphen zählt Karl noch all die Blumen und Bäume und Kräuter auf, die er in seinen Gärten gepflegt wissen will, als da sind: Rosen, Lilien, Rosmarin, Gurken, Zwiebeln, Radieschen, Kümmel und so weiter und so weiter. Die berühmte Gesetzesurkunde schließt ungefähr mit der Aufzählung verschiedener Apfelsorten.

Dies das Bild der kaiserlichen Wirtschaft im 9. Jahrhundert, und obwohl es sich hier um einen der mächtigsten und reichsten Fürsten des Mittelalters handelte, so wird jedermann zugeben müssen, daß seine Wirtschaft ebenso wie die Prinzipien dieses Wirtschaftsbetriebes überraschend an jenen zwerghaften Bauernhof erinnern, den wir zuerst betrachtet haben. Auch hier würde uns der kaiserliche Wirt, wenn wir ihm die bewußten Grundfragen der Nationalökonomie nach dem Wesen des Reichtums, dem Zweck der Produktion, der Arbeitsteilung usw. usw. vorlegen wollten, mit einer königlichen Handbewegung auf die Berge Getreide, Wolle und Hanf, auf die Fässer Wein, Öl und Essig, auf die Ställe voll Kühe, Ochsen und Schafe verweisen. Und wir wüßten wahrlich ebensowenig, was in dieser Wirtschaft eigentlich die nationalökonomische Wissenschaft an geheimnisvollen »Gesetzen« zu untersuchen und zu enträtseln hätte, da alle Zu- |569| sammenhänge, Ursache und Wirkung, Arbeit und ihr Resultat klar wie auf flacher Hand liegen.

Vielleicht hätte der Leser hier Lust, uns wieder darauf aufmerksam zu machen, daß wir das Beispiel abermals verkehrt gewählt hätten. Nach allem gehe nämlich aus der Urkunde Karls des Großen hervor, daß es sich hier nicht um die öffentlichen Wirtschaftsverhältnisse des Deutschen Reiches handelt, sondern um die Privatwirtschaft auf den Gütern des Kaisers. Wollte aber jemand diese zwei Begriffe einander entgegensetzen, so würde er sicher in bezug auf das Mittelalter einen geschichtlichen Irrtum begehen. Freilich bezog sich das Kapitulare auf die Wirtschaft in den Höfen und Gütern Kaiser Karls, aber diese Wirtschaft leitete er als Herrscher, nicht als Privatmann. Oder richtiger: Der Kaiser war Grundherr in seinen Hofländereien, aber jeder große adlige Grundherr war im Mittelalter, namentlich in der Zeit nach Karl dem Großen, ungefähr ein solcher Kaiser im kleinen, das heißt, er war schon kraft seines freien adligen Grundbesitzes Gesetzgeber, Steuereinnehmer und Richter gegenüber der Bevölkerung seiner Güter. Daß die Wirtschaftsverfügungen Karls, die wir kennengelernt haben, tatsächlich Regierungsakte waren, beweist ihre Form selbst: Sie bilden eins von den 65 Gesetzen oder »Kapitularien« Karls, die, vom Kaiser verfaßt, auf den jährlichen Reichsversammlungen seiner Großen publiziert wurden. Und die Bestimmungen über die Radieschen und die eisenbeschlagenen Weinfässer sind aus derselben Machtvollkommenheit heraus und in demselben Stil abgefaßt, wie zum Beispiel die Ermahnungen an die Geistlichen in der »Capitula Episcoporum«, dem »Bischöflichen Gesetz«, wo Karl die Diener des Herrn beim Ohr faßt und energisch ermahnt, nicht zu fluchen, sich nicht zu betrinken, schlechte Orte nicht zu besuchen, Frauenzimmer nicht auszuhalten und die heiligen Sakramente nicht zu teuer zu verkaufen. Wir mögen im Mittelalter suchen, wo wir wollen, wir finden nirgends auf dem platten Lande einen wirtschaftlichen Betrieb, für den nicht der obige Karls des Großen ein Muster und ein Typus wäre, sofern es sich um adelige Grundherrschaften handelt, oder aber jenen einfachen Bauernbetrieb, sei es, daß es sich um einzelne für sich wirtschaftende Bauernfamilien oder um gemeinschaftlich wirtschaftende Markgenossenschaften handelt.

Was in den beiden Beispielen das Hervorstechendste ist, daß hier das Bedürfnis des menschlichen Lebens so unmittelbar die Arbeit leitet und bestimmt und das Resultat so genau der Absicht und dem Bedürfnis entspricht, daß dadurch eben die Verhältnisse, ob auf großem oder kleinem Maßstab, jene überraschende Einfachheit und Durchsichtigkeit erhalten. |570| Der kleine Bauer auf seiner Hufe wie der große Monarch in seinen Höfen wissen ganz genau, was sie durch die Produktion erreichen wollen. Auch ist es keine Hexerei, dies zu wissen: Beide wollen die natürlichen Bedürfnisse des Menschen nach Speise und Trank, Bekleidung und Lebensbequemlichkeiten befriedigen. Der Unterschied ist nur der, daß der Bauer wohl auf einem Strohsack und der große Grundherr auf weichen Federbetten schläft, jener Bier und Met oder auch klares Wasser, dieser edle Weine zur Tafel trinkt. Der Unterschied liegt nur in der Menge und den Gattungen der hergestellten Güter. Die Grundlage der Wirtschaft aber und ihre Aufgabe: menschliche Bedürfnisse unmittelbar zu befriedigen, bleibt dieselbe. Der Arbeit, die von dieser natürlichen Aufgabe ausgeht, entspricht mit der gleichen Selbstverständlichkeit das Resultat. Auch hier wieder, im Arbeitsprozeß, sind Unterschiede vorhanden: Der Bauer arbeitet selbst mit seinen Familienmitgliedern, und er hat von der Frucht seiner Arbeit nur so viel, wie seine Hufe Land und sein Anteil an der Allmende hervorbringen kann oder, genauer - da wir hier vom mittelalterlichen Fronbauern sprechen -, so viel, wie ihm die Abgaben und die Roboten für den Gutsherrn und die Kirche übriglassen. Der Kaiser oder jeder andere adlige Grundherr arbeitet nicht selbst, sondern läßt für sich seine Untertanen und Hintersassen arbeiten. Ob aber jeder Bauer mit Familie für sich oder alle zusammen unter Leitung des Dorfschulzen oder des Fronvogtes für den Grundherrn arbeiten, das Resultat dieser Arbeit ist doch nichts als eine bestimmte Menge Lebensmittel im weiteren Sinne, das heißt gerade das, was benötigt, und ungefähr soviel wie benötigt wird. Man mag die so beschaffene Wirtschaft drehen und wenden wie man will, man findet keine Rätsel darin, die erst durch tiefsinnige Untersuchungen, durch eine besondere Wissenschaft zu ergründen wären. Der dümmste Bauer wußte im Mittelalter ganz genau, wovon sein »Reichtum« oder vielmehr seine Armut abhing, abgesehen von Naturerscheinungen, die herrschaftliche wie bäuerliche Ländereien von Zeit zu Zeit heimsuchten. Er wußte ganz genau, daß seine bäuerliche Not eine sehr einfache und direkte Ursache hatte: erstens die grenzenlosen Erpressungen der Grundherrschaften an Roboten und Abgaben, zweitens die Diebereien derselben Herrschaften an Gemeindeland, an Wald, Wiese und Wasser. Und was der Bauer wußte, das schrie er in den Bauernkriegen laut in die Welt hinaus, das zeigte er, indem er seinen Blutsaugern den roten Hahn aufs Dach steckte. Was hierbei wissenschaftlich zu erforschen blieb, das war nur der geschichtliche Ursprung und die Entwicklung jener Verhältnisse, das war die Frage, wieso es kommen konnte, daß in ganz Europa die ehe- |571| mals freien bäuerlichen Ländereien in zins- und abgabepflichtige adelige Grundherrschaften, der ehemals freie Bauernstand in eine fronpflichtige und später auch schollenpflichtige Untertanenmasse verwandelt wurde.

Ganz anders sehen indes die Dinge aus, sobald wir irgendeine Erscheinung aus dem heutigen wirtschaftlichen Leben ins Auge fassen. Wählen wir als Beispiel eines der bemerkenswertesten, hervorstechendsten Phänomene: die Handelskrise. Jeder von uns hat schon mehrere große Handels- und Industriekrisen erlebt und kennt aus eigener Anschauung diesen von Friedrich Engels so klassisch beschriebenen Vorgang: »Der Verkehr stockt, die Märkte sind überfüllt, die Produkte liegen da, ebenso massenhaft wie unabsetzbar, das bare Geld wird unsichtbar, der Kredit verschwindet, die Fabriken stehn still, die arbeitenden Massen ermangeln der Lebensmittel, weil sie zuviel Lebensmittel produziert haben, Bankrott folgt auf Bankrott, Zwangsverkauf auf Zwangsverkauf. Jahrelang dauert die Stockung, Produktivkräfte wie Produkte werden massenhaft vergeudet und zerstört, bis die aufgehäuften Warenmassen unter größerer oder geringerer Entwertung endlich abfließen, bis Produktion und Austausch allmählich wieder in Gang kommen. Nach und nach beschleunigt sich die Gangart, fällt in Trab, der industrielle Trab geht über in Galopp, und dieser steigert sich wieder bis zur zügellosen Karriere einer vollständigen industriellen, kommerziellen, kreditlichen und spekulativen Steeplechase, um endlich nach den halsbrechendsten Sprüngen wieder anzulangen - im Graben des Krachs.«[2] Wir wissen alle, daß eine solche Handelskrise der Schrecken jedes modernen Landes ist, und sehr bezeichnend ist schon die Art und Weise, wie das Herannahen einer Krise angekündigt wird. Nach Verlauf von einigen Jahren der Prosperität und des guten Geschäftsgangs beginnt erst hie und da in der Presse ein unklares Gemunkel, auf der Börse werden einzelne beunruhigende Nachrichten über Bankrotte gemeldet, dann werden die Winke in der Presse deutlicher, die Börse wird immer unruhiger, die Staatsbank erhöht den Diskont, das heißt erschwert und beschränkt den gewährten Kredit, bis die Nachrichten über Bankrotte, Stockungen wie ein Platzregen kommen. Und ist die Krise im vollen Gang, dann hebt der Streit darum an, wer an ihr die Schuld trägt. Die Geschäftsleute schieben die Schuld auf die schroffe Kreditverweigerung der Banken, die Banken auf die Spekulationswut der Börsenleute, die Börsianer auf die Industriellen, die Industriellen auf den Mangel an Geld |572| im Lande usw. Und fängt das Geschäft endlich an, wieder in Gang zu kommen, dann notieren auch die Börse, die Zeitungen mit Erleichterung die ersten Anzeichen der Besserung, bis Hoffnung, Ruhe und Sicherheit wieder für eine Zeitlang einkehren. Was bei alledem das Merkwürdige ist, das ist der Umstand, daß die Krise von allen Beteiligten, von der ganzen Gesellschaft, wie etwas betrachtet und behandelt wird, was außer dem Bereich des menschlichen Willens und der menschlichen Berechnung steht, wie ein Schicksalsschlag von einer unsichtbaren Macht auf uns herniedergeschickt, wie eine Prüfung vom Himmel in der Art etwa eines schweren Gewitters, eines Erdbebens oder einer Überschwemmung. Schon die Sprache, in der die Handelszeitungen über eine Krise zu berichten pflegen, bewegt sich mit Vorliebe in solchen Wendungen wie: »der bisher heitere Himmel der Geschäftswelt fängt an, sich mit düsteren Wolken zu überziehen«, oder wenn eine schroffe Erhöhung des Bankdiskonts zu melden ist, so wird sie unter dem unvermeidlichen Titel »Sturmzeichen« serviert, ebenso wie wir nachher vom vorüberziehenden Gewitter und heiteren Horizont lesen. Diese Ausdrucksweise bringt etwas mehr als die Geschmacklosigkeit der Tintenkulis der Geschäftswelt zum Ausdruck, sie ist geradezu typisch für die seltsame, sozusagen naturgesetzliche Wirkung der Krise. Die moderne Gesellschaft merkt ihr Nahen mit Schrecken, sie beugt zitternd den Nacken unter den hageldichten Schlägen, sie wartet das Ende der Prüfung ab und erhebt dann wieder das Haupt, erst zagend und ungläubig, endlich beruhigt. Es wird dies genau die Art sein, wie im Mittelalter das Volk den Ausbruch einer großen Hungersnot oder der Pest gewärtigte, wie heute der Landmann ein schweres Gewitter mit Hagel erduldet: dieselbe Ratlosigkeit und Machtlosigkeit gegenüber der schweren Prüfung. Allein die Hungersnot wie die Pest sind, wenn auch in letzter Linie soziale Erscheinungen, zunächst und unmittelbar Ergebnisse von Naturerscheinungen: einer Mißernte, einer Verbreitung krankheitserregender Keime und dergleichen. Das Gewitter ist ein Elementarereignis der physischen Natur, und kein Mensch vermag, wenigstens bei dem heutigen Stande der Naturwissenschaft und Technik, ein Gewitter herbeizuführen oder zu verhindern. Was ist aber die moderne Krise? Sie besteht, wie wir wissen, darin, daß zuviel Waren produziert worden sind, die keinen Absatz finden, daß infolgedessen der Handel und mit ihm die Industrie stocken. Die Herstellung von Waren, ihr Verkauf, der Handel, die Industrie - das sind aber rein menschliche Beziehungen. Es sind die Menschen selbst, die Waren produzieren, und die Menschen selbst, die sie kaufen, der Handel wird von Mensch zu Mensch geführt, wir finden in den Umständen, |573| welche die moderne Krise ausmachen, nicht ein einziges Element, das außerhalb des menschlichen Tuns liegen würde. Es ist also niemand anders als die menschliche Gesellschaft selbst, die die Krise periodisch hervorbringt. Und doch wissen wir gleichzeitig, daß die Krise eine wahre Geißel für die moderne Gesellschaft ist, daß sie mit Schrecken erwartet und mit Verzweiflung ertragen wird, daß sie von niemand gewollt, herbeigewünscht wird. Denn abgesehen von einzelnen Börsenwölfen, die sich bei einer Krise auf anderer Kosten rasch zu bereichern trachten, dabei aber häufig selbst hereinfallen, ist die Krise für alle zum mindesten eine Gefahr oder eine Störung. Niemand will die Krise, und doch kommt sie. Die Menschen schaffen sie mit eigenen Händen, und doch wollen sie sie um nichts in der Welt haben. Hier haben wir in der Tat ein Rätsel des Wirtschaftslebens vor uns, das uns keiner von den Beteiligten zu erklären weiß. Der mittelalterliche Bauer auf seiner kleinen Parzelle produzierte zu einem Teil, was sein Grundherr, zum andern Teil, was er selbst wollte und brauchte: Korn und Vieh, Lebensmittel für sich und seine Familie. Der große Grundherr im Mittelalter ließ für sich produzieren, was er wollte und brauchte: Korn und Vieh, gute Weine und feine Kleider, Lebensmittel und Luxusgegenstände für sich und seinen Hofhalt. Die heutige Gesellschaft produziert aber, was sie weder will noch brauchen kann: Krisen; sie produziert von Zeit zu Zeit Lebensmittel, die sie nicht verwenden kann; sie leidet periodisch Hungersnot bei ungeheuren Speichern unverkäuflicher Produkte. Das Bedürfnis und die Befriedigung, die Aufgabe und das Resultat der Arbeit decken sich nicht mehr, zwischen ihnen steckt etwas Unklares, Rätselhaftes.

Nehmen wir ein anderes, allgemein bekanntes, den Arbeitern aller Länder allzugut bekanntes Beispiel: die Arbeitslosigkeit.

Die Arbeitslosigkeit ist nicht mehr, wie die Krise, ein Kataklismus, der die Gesellschaft von Zeit zu Zeit heimsucht: Sie ist heute in größerem oder geringerem Grade eine ständige alltägliche Begleiterscheinung des Wirtschaftslebens geworden. Die bestorganisierten und bestbezahlten Arbeiterkategorien, die ihre Listen der Arbeitslosen führen, notieren eine ununterbrochene Kette von Zahlen für jedes Jahr und für jeden Monat und jede Woche im Jahre; diese Zahlen unterliegen starken Schwankungen, sie versiegen aber niemals gänzlich. Wie machtlos die heutige Gesellschaft der Arbeitslosigkeit, dieser furchtbaren Geißel der Arbeiterklasse, gegenübersteht, zeigt sich jedesmal, wenn der Umfang dieses Übels so groß wird, daß er die gesetzgebenden Körper zwingt, sich mit ihm zu befassen. Der regelmäßige Verlauf solcher Verhandlungen gipfelt nach langem Hin- |574| undherreden in dem Beschluß, eine Enquete, eine Umfrage, über die vorhandene Zahl der Arbeitslosen vorzunehmen. Man beschränkt sich in der Hauptsache darauf, den jeweiligen Stand des Übels zu messen, wie man bei Überschwemmungen den Pegel des Wassers mißt, und im besten Falle durch schwächliche Palliativmittel in Gestvon Arbeitslosenunterstützung - zumeist auf eigene Kosten der beschäftigten Arbeiter - die Wirkungen des Übels etwas zu mildern, ohne auch nur einen Versuch zu machen, das Übel selbst zu beseitigen.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte der große Prophet der englischen Bourgeoisie, der Pfaffe Malthus, mit der ihm eigenen herzerfrischenden Brutalität den Grundsatz proklamiert: »Wer in einer bereits in Besitz genommenen Welt geboren ist, hat, falls er von seinen Verwandten, an die er Forderungsrechte hat, keine Existenzmittel erlangen kann und falls die Gesellschaft seine Arbeit nicht braucht, kein Anrecht auf die geringste Menge Nahrungsmittel, und er hat tatsächlich auf dieser Welt nichts zu schaffen. An dem großen Bankett der Natur ist für ihn kein Tisch gedeckt. Die Natur bedeutet ihn, sich zu drücken, und sie vollzieht rasch ihren eigenen Befehl.«[3] Die heutige offizielle Gesellschaft mit der ihr eigenen »sozialreformerischen« Heuchelei verpönt so krasse Offenherzigkeiten. Tatsächlich aber läßt sie schließlich den arbeitslosen Proletarier, »dessen Arbeit sie nicht braucht«, sich in dieser oder jener Weise, rasch oder langsam, von dieser Welt »drücken«, worüber die Zahlen der zunehmenden Krankheiten, der Säuglingssterblichkeit, der Verbrechen gegen das Eigentum während jeder großen Krise quittieren.

Gerade der von uns gebrauchte Vergleich der Arbeitslosigkeit mit einer Überschwemmung zeigt sogar die auffallende Tatsache, daß wir Elementarereignissen physischer Natur an sich weniger machtlos gegenüberstehen als unseren eigenen, rein gesellschaftlichen, rein menschlichen Angelegenheiten! Die periodischen Wasserüberschwemmungen, die im Frühling im Osten Deutschlands so ungeheuren Schaden anrichten, sind in letzter Linie nur eine Folge der ganz verwahrlosten Wasserwirtschaft, die wir jetzt führen. Die Technik gibt selbst in ihrem heutigen Stand bereits ausreichende Mittel zum Schutze der Landwirtschaft vor der Wassergewalt, ja zur Nutzbarmachung dieser Gewin die Hand, bloß sind diese Mittel nicht anders anwendbar als auf der höchsten Stufenleiter einer großen zusammenhängenden, rationellen Wasserwirtschaft, die das ganze heimge- |575| suchte Gebiet umbauen, Ackerflächen und Wiesen entsprechend verlegen, Dämme und Schleusen errichten, Flüsse regulieren müßte. Diese große Reform wird freilich nicht in Angriff genommen, teils weil weder Privatkapitalisten noch der Staat für eine solche Unternehmung die Mittel hergeben wollen, teils weil sie auf dem großen Gebiete, das in Betracht käme, auf die Schranken der verschiedensten privaten Bodenbesitzrechte stoßen würde. Die Mittel jedoch, um der Wassergefahr zu begegnen und das rasende Element zu fesseln, hat auch die heutige Gesellschaft schon in der Hand, wenn sie sie gleich nicht zu gebrauchen imstande ist. Ein Mittel gegen die Arbeitslosigkeit jedoch ist in der heutigen Gesellschaft noch nicht erfunden. Und doch ist es kein Element, keine physische Naturerscheinung, keine übermenschliche Gewalt, sondern ein rein menschliches Produkt der wirtschaftlichen Verhältnisse. Und auch hier wieder stehen wir also vor einem ökonomischen Rätsel: vor einer Erscheinung, die niemand beabsichtigt, niemand bewußt anstrebt und die sich dennoch mit der Regelmäßigkeit einer Naturerscheinung einstellt, gewissermaßen über die Köpfe der Menschen hinweg.

Aber wir brauchen gar nicht zu solchen auffallenden Erscheinungen des heutigen Lebens wie Krise oder Arbeitslosigkeit, also nicht bloß zu Kalamitäten und Fällen außerordentlicher Natur zu greifen, die nach der landläufigen Vorstellung in dem gewöhnlichen Lauf der Dinge eine Ausnahme bilden. Nehmen wir ein allergewöhnlichstes Beispiel aus dem täglichen Leben, das sich tausendmal in allen Ländern wiederholt: die Preisschwankungen der Waren. Jedes Kind weiß, daß die Preise aller Waren nicht etwas Festes und Unveränderliches darstellen, sondern im Gegenteil fast jeden Tag, ja oft jede Stunde hinauf oder heruntergehen. Nehmen wir eine beliebige Zeitung in die Hand, schlagen wir den Bericht von der Produktenbörse auf, und wir werden über die Preisbewegung des vergangenen Tages lesen: Weizen - vormittag, Stimmung schwach, um die Mittagszeit etwas lebhafter, gegen Schluß der Börse ziehen die Preise an, oder auch umgekehrt. Dasselbe bei Kupfer und Eisen, Zucker und Rüböl. Und dasselbe bei den Aktien der verschiedenen Industrieunternehmungen, bei staatlichen und privaten Wertpapieren an der Effektenbörse. Die Preisschwankungen sind eine unaufhörliche, alltägliche, ganz »normale« Erscheinung des heutigen Wirtschaftslebens. Durch diese Preisschwankungen vollzieht sich aber täglich und stündlich eine Veränderung im Vermögensstand der Besitzer all dieser Produkte und Wertpapiere. Steigen die Preise der Baumwolle, so wächst momentan das Vermögen aller Händler und Fabrikanten, die Baumwollbestände auf ihren Lagern vorrätig haben; sin- |576| ken die Preise, so schmelzen jene Vermögen entsprechend zusammen. Gehen die Kupferpreise in die Höhe, so werden die Inhaber der Aktien von Kupferbergwerken reicher, fallen die Preise, so werden sie ärmer. So können Leute durch einfache Preisschwankungen auf Grund eines Börsentelegramms in wenigen Stunden zu Millionären und zu Bettlern werden, und darauf beruht ja wesentlich die Börsenspekulation mit ihrem Schwindel. Der mittelalterliche Grundherr konnte reicher oder ärmer werden durch eine gute oder schlechte Ernte; oder aber er bereicherte sich, wenn er als Raubritter, der dem vorüberziehenden Kaufmann auflauerte, einen guten Fang gemacht hatte; oder aber - und dies war allzumal das probateste und beliebteste Mittel - er vergrößerte seinen Reichtum, wenn er aus seinen leibeigenen Bauern durch Erhöhung der geforderten Fronden und Abgaben mehr pressen konnte, als es ehedem der Fall war. Heute kann ein Mensch plötzlich reich oder arm werden ohne sein geringstes Zutun, ohne daß er nur den Finger rührte, ohne irgendein Naturereignis, auch ohne daß jemand ihm etwas geschenkt oder ihn gewaltsam beraubt hätte. Die Preisschwankungen sind gleichsam eine geheimnisvolle Bewegung, die, hinter dem Rücken der Menschen durch eine unsichtbare Macht gelenkt, eine fortwährende Verschiebung und Schwankung in der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums hervorrufen. Man notiert bloß diese Bewegung, wie man die Temperatur am Thermometer, den Luftdruck am Barometer abliest. Und doch sind Warenpreise und ihre Bewegung offenbar eine rein menschliche Angelegenheit und keine Zauberei. Niemand anders als die Menschen selbst stellen die Waren mit eigenen Händen her und bestimmen ihre Preise, bloß daß auch hier wieder aus ihrem Tun etwas herauskommt, was niemand beabsichtigte und anstrebte; auch hier wieder sind Bedürfnis, Zweck und Resultat des wirtschaftlichen Tuns der Menschen in ein klaffendes Mißverhältnis zueinander geraten.

Woher kommt dies, und welches sind die dunklen Gesetze, nach denen sich hinter dem Rücken der Menschen ihr eigenes wirtschaftliches Leben heute zu so seltsamen Ergebnissen fügt? Dies aufzuhellen ist nur durch eine wissenschaftliche Untersuchung möglich. Es ist notwendig geworden, auf dem Wege einer angestrengten Forschung, eines tieferen Nachdenkens, Analysierens, Vergleichens, alle diese Rätsel zu lösen, das heißt die verborgenen Zusammenhänge ausfindig zu machen, die es mit sich bringen, daß die Ergebnisse des wirtschaftlichen Tuns der Menschen nicht mehr mit ihren Absichten, mit ihrem Willen, kurz mit ihrem Bewußtsein übereinstimmen. Es ergibt sich so als Aufgabe der wissenschaftlichen Forschung, was sich als Mangel an Bewußtsein innerhalb der gesellschaftlichen |577| Wirtschaft zeigt; und hier sind wir unmittelbar an der Wurzel der Nationalökonomie angelangt.

Darwin erzählt uns von seiner Reise um die Welt über die Feuerländer:

»Sie leiden oft unter Hungersnöten; ich hörte, wie Mister Low, der Kapitän eines Robbenjägers, der sehr genau mit den Eingeborenen des Landes bekannt war, eine merkwürdige Schilderung des Zustandes von einer Gesellschaft von 130 Eingeborenen an der Westküste gab, welche sehr mager und in großer Not waren. Eine Reihe von Stürmen verhinderte die Frauen, Muscheln von den Felsen zu sammeln, auch konnten sie nicht in Kanus ausfahren, um Robben zu fangen. Eine kleine Partie dieser Leute machte sich eines Morgens auf den Weg, und die anderen Indianer erklärten ihm, daß sie sich auf eine viertägige Reise aufmachten, um Nahrung zu holen. Bei ihrer Rückkehr ging Low hin, um sie zu treffen, und fand sie äußerst ermüdet; jeder trug ein großes viereckiges Stück fauligen Walfischspecks mit einem Loch in der Mitte, durch das sie ihren Kopf gesteckt hatten, gerade so wie die Gaucho ihren Poncho oder Mantel tragen. Sobald der Speck in einen Wigwam gebracht war, schnitt ein alter Mann dünne Scheibchen davon ab, murmelte ein paar Worte über sie, röstete sie eine Minute lang und verteilte sie dann an seine verhungerte Gesellschaft, welche während der ganzen Zeit ein tiefes Stillschweigen bewahrte.«(2)

Dies das Leben eines der tiefststehenden Völker der Erde. Äußerst eng sind hier noch die Grenzen, innerhalb deren Wille und bewußte Ordnung der Wirtschaft walten können. Die Menschen hängen hier noch ganz am Gängelband der äußeren Natur und sind von ihrer Gunst und Mißgunst abhängig. Aber innerhalb dieser engen Grenzen macht sich in dieser kleinen Gesellschaft von etlichen 150 Individuen [die] Organisation des ganzen geltend. Die Vorsorge für die Zukunft äußert sich erst in der kümmerlichen Gestdes Vorrats an fauligem Walfischspeck. Aber der kümmerliche Vorrat wird unter bestimmten Zeremonien an alle verteilt, und an der Arbeit der Nahrungssuche beteiligen sich alle gleichfalls unter planmäßiger Leitung.

Nehmen wir einen griechischen Oikos, eine antike Hauswirtschaft mit Sklaven, die im großen und ganzen tatsächlich einen »Mikrokosmos«, eine kleine Welt für sich bildete. Hier herrscht bereits die größte soziale Ungleichheit. Die primitive Dürftigkeit hat einem behaglichen Überfluß an den Früchten der menschlichen Arbeit Platz gemacht. Aber die körperliche Arbeit ist zum Fluch der einen, die Muße zum Vorrecht der anderen, der |578| Arbeitende selbst zum Eigentum des Nichtarbeitenden geworden. Doch aus diesem Herrschaftsverhältnis ergibt sich auch die strengste Planmäßigkeit und Organisation der Wirtschaft, des Arbeitsprozesses, der Verteilung. Der bestimmende Wille des Herrn ist ihre Grundlage, die Peitsche des Sklavenaufsehers ihre Sanktion.

In dem feudalen Fronhof des Mittelalters bekommt die despotische Organisation der Wirtschaft schon früh das Gesicht eines ausführlichen, im voraus ausgearbeiteten Kodex, worin der Arbeitsplan, die Arbeitsteilung, die Pflichten wie die Ansprüche eines jeden klar und fest umrissen sind. An der Schwelle dieser Geschichtsperiode steht jenes schöne Dokument, das wir bereits kennengelernt haben: das »Capitulare de villis« Karls des Großen, das noch heiter und sonnig in der Fülle der leiblichen Genüsse schwelgt, auf die allein die Wirtschaft gerichtet ist. An ihrem Ende steht der düstere Kodex der Fronden und Abgaben, der, durch die entfesselte Geldgier der Feudalherren diktiert, im 16. Jahrhundert [3] in den Deutschen Bauernkrieg mündet, um noch ein paar Jahrhunderte später den französischen Bauern zu jenem elenden, halbvertierten Wesen zu machen, das erst durch die gellende Alarmglocke der großen Revolution zum Kampf um seine Menschen und Bürgerrechte aufgerüttelt wird. Aber solange der Besen der Revolution den Feudalhof nicht weggefegt hatte, war es selbst in jenem Elend das unmittelbare Herrschaftsverhältnis, das die Zusammenhänge der feudalen Wirtschaft wie ein unabwendbares Schicksal fest und klar bestimmte.

Heute kennen wir keine Herren und Sklaven, keine Feudalbarone und Leibeigenen. Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz haben formell alle despotischen Verhältnisse beseitigt, wenigstens in den alten bürgerlichen Staaten; in den Kolonien wird ja - wie bekannt - von diesen Staaten selbst Sklaverei und Leibeigenschaft häufig genug erst eingeführt. Wo jedoch die Bourgeoisie zu Hause ist, da herrscht als alleiniges Gesetz über den Wirtschaftsverhältnissen die freie Konkurrenz. Damit ist aber jeglicher Plan, jegliche Organisation aus der Wirtschaft verschwunden. Freilich, blicken wir in einen einzelnen Privatbetrieb, in eine moderne Fabrik oder einen gewaltigen Komplex von Fabriken und Werken, wie bei Krupp, in eine landwirtschaftliche Bonanzafarm in Nordamerika, so finden wir dort die strengste Organisation, die weitgehendste Arbeitsteilung, |579| die raffinierteste, auf wissenschaftlicher Erkenntnis basierte Planmäßigkeit. Dort klappt alles aufs wunderbarste, von einem Willen, einem Bewußtsein geleitet. Kaum verlassen wir aber die Tore der Fabrik oder der Farm, als uns auch schon das Chaos empfängt. Während die zahllosen Einzelteile - und ein heutiger Privatbetrieb, auch der riesigste, ist nur ein Splitter der großen Wirtschaftsbande, die sich über die ganze Erde erstrecken -, während die Einzelteile aufs strengste organisiert sind, ist das Ganze der sogenannten »Volkswirtschaft«, das heißt der kapitalistischen Weltwirtschaft, völlig unorganisiert. In dem Ganzen, das sich über Ozeane und Weltteile schlingt, macht sich kein Plan, kein Bewußtsein, keine Regelung geltend; nur blindes Walten unbekannter, ungebändigter Kräfte treibt mit dem Wirtschaftsschicksal der Menschen sein launisches Spiel. Ein übermächtiger Herrscher regiert freilich auch heute die arbeitende Menschheit: das Kapital. Aber seine Regierungsform ist nicht Despotie, sondern Anarchie.

Und diese eben macht es, daß die gesellschaftliche Wirtschaft Resultate hervorbringt, die den beteiligten Menschen selbst unerwartet und rätselhaft sind, sie macht es, daß die gesellschaftliche Wirtschaft zu einer uns fremden, entäußerten, von uns unabhängigen Erscheinung geworden ist, deren Gesetze wir ebenso ergründen müssen, wie wir die Erscheinungen der äußeren Natur untersuchen, wie wir die Gesetze zu ergründen suchen, die das Leben des Pflanzenreichs und des Tierreichs, die Veränderungen in der Erdrinde und die Bewegungen der Himmelskörper beherrschen. Die wissenschaftliche Erkenntnis muß hinterdrein den Sinn und die Regel der gesellschaftlichen Wirtschaft aufdecken, die der bewußte Plan ihr nicht von vornherein diktiert hat.

Es ist nun klar, weshalb es den bürgerlichen Nationalökonomen unmöglich ist, das Wesen ihrer Wissenschaft klar herauszuheben, den Finger in die Wunde ihrer Gesellschaftsordnung zu legen, sie in ihrer inneren Gebrechlichkeit zu denunzieren. Erkennen und bekennen, daß Anarchie das Lebenselement der Kapitalsherrschaft ist, heißt in gleichem Atem das Todesurteil sprechen, heißt sagen, daß ihrer Existenz nur eine Gnadenfrist gewährt ist. Es ist nun klar, weshalb die offiziellen wissenschaftlichen Anwälte der Kapitalsherrschaft mit allen Wortkünsteleien die Sache zu verschleiern, den Blick vom Kern auf die äußere Schale, von der Weltwirtschaft auf die »Volkswirtschaft« zu richten suchen. Bereits bei dem ersten Schritt über die Schwelle der nationalökonomischen Erkenntnis, bereits bei der ersten grundlegenden Frage: was die Nationalökonomie eigentlich und was ihr Grundproblem sei, scheiden sich heute die Wege der bürger- |580| lichen und der proletarischen Erkenntnis. Mit dieser ersten Frage, so abstrakt und gleichgültig für soziale Kämpfe der Gegenwart sie auf den ersten Blick erscheint, knüpft sich bereits ein besonderes Band zwischen der Nationalökonomie als Wissenschaft und dem modernen Proletariat als revolutionäre Klasse.


Fußnoten von Rosa Luxemburg

(1) Nikolai Sieber: David Ricardo und Karl Marx, Moskau 1879, S. 480. [N. J. Siber: Dawid Ricardo i Karl Marks w ich obstschestwenno - ekonomitscheskich issledowanijach. In: Isbrannyje ekonomitschestije proiswedenija w dwuch tomach, Bd. 1. Moskau 1959, S. 448/449.] <=

(2) D., S. 245. [Charles Darwin: Reise eines Naturforschers um die Welt, 2. Aufl., Stuttgart 1899, S . 231/232.] <=


Redaktionelle Anmerkungen

[1] Zit. nach: Karl Marx: Das Kapital, Erster Band, In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Bd. 23, S. 509/510, Fußnote 304. <=

[2] Friedrich Engels: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 20, S. 257. <=

[3] Siehe Thomas Robert Malthus: An Essay on the Principle of Population, as it Affects the Future Improvement of Society, with Remarks on the Speculations of Mr:. Godwin, M. Condorent, and other Writers, London 1803, S. 531/532. <=

[4] In der Quelle: 15. Jahrhundert. <=


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