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Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 5. Berlin/DDR. 1975. »Einführung in die Nationalökonomie«, S. 557-563.
1. Korrektur
Erstellt am 20.10.1998

Rosa Luxemburg - Einführung in die Nationalökonomie

I. Was ist Nationalökonomie? - 4.


|557| Kann Professor Bücher trotz alledem an eine Weltwirtschaft nicht glauben? Nein. Denn so erklärt der Gelehrte, nachdem er sich nach allen Weltgegenden aufmerksam umgeschaut und nichts entdeckt hat: Ich kann mir nicht helfen, ich sehe gar keine »besonderen Erscheinungen«, die von einer Volkswirtschaft »in wesentlichen Merkmalen abweichen« würden, »und es steht sehr zu bezweifeln, daß solle in absehbarer Zukunft auftreten werden«.[1]

Nun, so verlassen wir ganz den Handel und die Handelsstatistiken, und wenden wir uns direkt an das Leben, an die Geschichte der modernen Wirtschaftsbeziehungen. Nur ein einziges kleines Kapitel aus dem bunten Riesenbilde.

Im Jahre 1768 wird in Nottingham in England die erste Baumwollspinnerei mit mechanischem Betrieb von Arkwright errichtet, im Jahre 1783 erfindet Cartwright den mechanischen Webstuhl. Die nächste Folge ist in England die Vernichtung der Handweberei und die rapide Verbreitung der mechanischen Fabrikation. Anfangs des 19. Jahrhunderts gab es in England nach einer Schätzung ca. eine Million Handweber; sie sind nun auf den Aussterbeetat gesetzt, und um das Jahr 1860 gibt es im Vereinigten Königreich nur noch wenige Tausende von Handwebern, dafür |358| aber mehr als eine halbe Million Fabrikarbeiter in der Baumwollbranche. Im Jahre 1863 spricht der Ministerpräsident Gladstone im Parlament von einer »berauschenden Vermehrung von Reichtum und Macht«, die sich über die englische Bourgeoisie ergossen habe, ohne daß die Arbeiterklasse daran irgendeinen Anteil genommen hätte.

Die englische Baumwollindustrie bezieht ihren Rohstoff aus Nordamerika. Das Wachstum der Fabriken im Distrikt Lancashire rief enorme Plantagen der Baumwolle in dem südlichen Teil der Vereinigten Staaten hervor. Als billige Arbeitskräfte für die mörderische Arbeit in den Baumwollplantagen, genauso wie für die Zucker, Reis und Tabakpflanzungen, wurden Neger aus Afrika importiert. In Afrika belebt sich außerordentlich der Sklavenhandel, ganze Negerstämme werden im Innern des »schwarzen Erdteils« gejagt, von ihren Häuptlingen verschachert, über enorme Strecken zu Lande und zu Wasser transportiert, um nach Amerika verkauft zu werden. Es entsteht eine förmliche schwarze »Völkerwanderung«. Am Ende des 18. Jahrhunderts, im Jahre 1790, gab es in Amerika nach einer Berechnung nur 69.000 Neger, im Jahre 1861 über 4 Millionen.

Die kolossale Ausdehnung des Sklavenhandels und der Sklavenarbeit im Süden der Union ruft einen Kreuzzug der Nordstaaten gegen diese unchristlichen Greuel hervor. Die massenhafte Einfuhr englischen Kapitals in den Jahren 1825-1860 hatte im Norden der Vereinigten Staaten einen lebhaften Eisenbahnbau, die Anfänge einer eigenen Industrie ins Leben gerufen und mit ihnen die Bourgeoisie, die für modernere Formen der Ausbeutung, für die kapitalistische Lohnsklaverei schwärmte. Die märchenhaften Geschäfte der südlichen Plantagenbesitzer, die ihre Sklaven binnen 7 Jahren zu Tode schinden konnten, waren den frommen Puritanern des Nordens um so mehr ein Greuel, als die klimatischen Verhältnisse es ihnen verboten, dasselbe Paradies in ihren Staaten zu errichten. So wurde auf Betreiben der Nordstaaten die Sklaverei für das ganze Gebiet der Union im Jahre 1861 durch ein Gesetz in aller Form aufgehoben. Die in ihren innersten Gefühlen getroffenen Pflanzer des Südens beantworteten den Streich mit einem offenen Aufruhr. Die Südstaaten erklärten ihre Sezession aus der Union, und der große Bürgerkrieg brach aus.

Die nächste Wirkung des Krieges war die Verheerung und der wirtschaftliche Ruin der Südstaaten. Produktion und Handel lagen darnieder, die Ausfuhr der Baumwolle wurde unterbrochen. So wurde die englische |559| Industrie ihres Rohstoffs beraubt, und im Jahre 1863 bricht in England eine furchtbare Krise, der sogenannte »Baumwollhunger«, aus. Im Distrikt Lancashire werden 250.000 Arbeiter ganz arbeitslos, 166.000 nur teilweise beschäftigt, und nur 120.000 Arbeiter finden noch volle Beschäftigung, doch bei Löhnen, die um 10-20 Prozent herabgedrückt sind. Grenzenloses Elend herrscht unter der Bevölkerung des Distrikts, und 30.000 Arbeiter fordern in einer Petition an das englische Parlament die Bewilligung von Staatsmitteln, um mit Weib und Kind aus England auszuwandern. Die australischen Staaten, die für ihren beginnenden kapitalistischen Aufschwung erforderlicher Arbeitskräfte ermangeln - nachdem die eingeborene Bevölkerung durch die europäischen Einwanderer bis auf einen geringen Rest ausgerottet worden ist -, erklären sich bereit, die arbeitslosen Proletarier aus England aufzunehmen. Allein die englischen Fabrikanten protestieren heftig gegen die Auswanderung ihrer »lebendigen Maschinerie«, die sie bei demnächst zu erwartendem Aufschwung der Industrie wieder selbst brauchen können. Die Mittel zur Emigration werden den Arbeitern verweigert und die Schrecken der Krise von ihnen bis auf die Neige ausgekostet.

Die englische Industrie sucht, nachdem die amerikanische Quelle versagt hat, sich anderweitig ihren Rohstoff zu verschaffen und richtet ihre Blicke nach Ostindien. Baumwollplantagen werden hier fieberhaft angelegt, und der Reisbau, der seit Jahrtausenden die tägliche Nahrung der Bevölkerung liefert und ihre Existenzbasis bildet, muß auf weiten Strecken den profitablen Aussichten der Spekulanten weichen. Im Anschluß an diese Verdrängung des Reisbaues stellt sich nach wenigen Jahren eine außerordentliche Teuerung und eine Hungersnot ein, bei der 1866 in einem einzigen Distrikt, Orissa, nördlich von Bengalen, mehr als 1 Million Menschen vom Hungertode weggerafft werden.

Ein zweites Experiment wird in Ägypten gemacht. Um die Konjunktur des Sezessionskrieges auszunützen, legt der Vizekönig von Ägypten, Ismail Pascha, schleunigst Baumwollplantagen an. Eine förmliche Revolution findet in den Eigentumsverhältnissen und der Landwirtschaft des Landes statt. Das Bauernland wird auf weiten Strecken gestohlen, als königliches Gut erklärt und zu Plantagen größten Stils verwendet. Tausende von Fronbauern werden mit der Karbatsche auf die Plantagen getrieben, um für den Vizekönig Dämme aufzurichten, Kanäle zu bauen und den Pflug zu führen. Der Vizekönig aber stürzt sich noch tiefer in Schulden bei englischen und französischen Bankiers, um für geliehenes Geld modernste Dampfpflüge und Entkörnungsanlagen aus England zu beziehen. Die |560| großartige Spekulation endete schon nach einem Jahre mit dem Bankrott, als nach dem Friedensschluß in den Vereinigten Staaten der Preis der Baumwolle in wenigen Tagen wieder auf den vierten Teil fiel. Das Ergebnis der Baumwollperiode für Ägypten war der beschleunigte Ruin der Bauernwirtschaft, der beschleunigte Zusammenbruch der Finanzen und am letzten Ende die beschleunigte Okkupation Ägyptens [durch] das englische Militär.

Inzwischen macht die Baumwollindustrie neue Eroberungen. Der Krimkrieg des Jahres 1855 hatte die Zufuhr von Hanf und Flachs aus Rußland [unterbunden], was in Westeuropa zu einer heftigen Krise in der Leinwandfabrikation führte. Die Baumwolle dringt dabei vielfach an Stelle der Leinwand, die Baumwollindustrie dehnt sich auf Kosten der Leinwandproduktion immer mehr aus. In Rußland erfolgt gleichzeitig seit dem Zusammenbruch des alten Systems im Krimkriege eine politische Umwälzung, Abschaffung der Leibeigenschaft, liberale Reformen, Freihandel und rapider Bau von Eisenbahnen. Ein neuer gewaltiger Absatzmarkt für Industrieprodukte wird damit im Innern des Riesenreichs eröffnet, und die englische Baumwollindustrie dringt mit als die erste auf die russischen Märkte vor. In den sechziger Jahren wird gleichfalls nach einer Reihe blutiger Kriege China für den englischen Handel erschlossen. England beherrscht den Weltmarkt, und die Baumwollindustrie liefert die Hälfte seiner Ausfuhr. Die Periode der sechziger und siebziger Jahre ist die Zeit der glänzendsten Geschäfte der englischen Kapitalisten, zugleich die Zeit, wo sie am meisten geneigt sind, sich durch kleine Konzessionen an die Arbeiter die »Hände« und den »gewerblichen Frieden« zu sichern. In dieser Periode erreichen die englischen Trade-Unions, die Baumwollspinner und -weber an der Spitze, ihre bedeutendsten Erfolge, zugleich ist dies die Zeit des endgültigen Absterbens der revolutionären Traditionen der Chartistenbewegung und der Owenschen Ideen im englischen Proletariat und seine Erstarrung im konservativen Tradeunionismus.

Bald wendet sich jedoch das Blatt. Überall auf dem Kontinent, wohin |561| England seine Baumwollprodukte ausführte, entsteht nach und nach eine eigene Baumwollindustrie. Schon 1844 spielen sich Hungeraufstände der Handweber in Schlesien und Böhmen als die ersten Vorboten der Märzrevolution ab. Auch in den eigenen Kolonien Englands entsteht eine einheimische Industrie. Die Baumwollfabriken Bombays machen bald den englischen Konkurrenz und helfen in den achtziger Jahren das Monopol Englands auf dem Weltmarkt brechen.

Endlich in Rußland inauguriert der Aufschwung einer eigenen Baumwollfabrikation in den siebziger Jahren die Ära der Großindustrie und des Schutzzolls. Zur Umgehung der hohen Zollschranke werden aus Sachsen, aus dem Vogtlande ganze Fabriken mitsamt ihrem Personal nach Russisch-Polen übertragen, wo neue Fabrikzentren, Lódz, Zgierz, mit kalifornischer Plötzlichkeit zu großen Städten anwachsen. Zu Anfang der achtziger Jahre erzwingen die Arbeiterunruhen in dem Baumwolldistrikt Moskau-Wladimir die ersten Arbeiterschutzgesetze des Zarenreiches. Im Jahre 1896 veranstalten 60.000 Arbeiter der Petersburger Baumwollfabriken den ersten Massenstreik in Rußland. Und neun Jahre später, im Juni 1905, errichten im dritten Zentrum der Baumwollindustrie, in Lódz, 100.000 Arbeiter, darunter die deutschen mit an der Spitze, die ersten Barrikaden der großen russischen Revolution ...[2]

Wir haben hier in knappen Zügen 140 Jahre Geschichte eines modernen Industriezweiges vor uns, eine Geschichte, die sich durch alle fünf Weltteile windet, Millionen von Menschenleben hinüberschleudert, hier als Krise, dort als Hungersnot ausbricht, bald als Krieg, bald als Revolution aufflammt, allenthalben auf ihrem Wege Goldberge von Reichtum und Abgründe des Elends zurückläßt - ein breiter blutgefärbter Schweißstrom der menschlichen Arbeit.

Das sind Zuckungen des Lebens, das sind Fernwirkungen, die bis an |562| die Eingeweide des Völker greifen, wovon aber auch nicht ein blasser Schimmer in den trockenen Zahlen der internationalen Handelsstatistiken zu lesen ist. In den anderthalb Jahrhunderten, seitdem die moderne Industrie in England ihren Einzug gehalten, hat sich die kapitalistische Weltwirtschaft unter Schmerzen und Konvulsionen der gesamten Menschheit erst recht herausgebildet. Sie hat einen Produktionszweig nach dem anderen ergriffen, sich eines Landes nach dem anderen bemächtigt. Mit Dampf und Elektrizität, mit Feuer und Schwert hat sie sich in die entferntesten Erdwinkel Eingang verschafft, hat alle Chinesischen Mauern niedergerissen und durch die Ära der Weltkrisen, durch gemeinsame periodische Katastrophen die wirtschaftliche Zusammengehörigkeit der heutigen Menschheit eingeweiht. Der italienische Proletarier, der, aus dem heimischen Elend durch das vaterländische Kapital vertrieben, nach Argentinien oder Kanada auswandert, findet dort bereits ein fertiges neues Joch des Kapitals, aus den Vereinigten Staaten oder aus England importiert. Und der deutsche Proletarier, der zu Hause bleibt und sich redlich nähren will, ist in seinem Wohl und Wehe auf Schritt und Tritt von dem Gang der Produktion und des Handels in der ganzen Welt abhängig. Ob er Arbeit findet oder nicht, ob sein Lohn ausreichen wird, Weib und Kinder zu sättigen, ob er mehrere Tage in der Woche zu erzwungener Muße oder Tag und Nacht zur Hölle der Überarbeit verurteilt wird - das alles schwankt fortwährend in Abhängigkeit von der Baumwollernte in den Vereinigten Staaten, der Weizenernte in Rußland, den Entdeckungen neuer Gold- oder Diamantenfelder in Afrika, den Revolutionswirren in Brasilien, den Zollkämpfen, diplomatischen Wirren und Kriegen in fünf Weltteilen. Nichts ist heute so frappant, nichts ist von so entscheidender Bedeutung für die gesamte Gestaltung des heutigen sozialen und politischen Lebens wie der klaffende Widerspruch zwischen dieser jeden Tag enger und fester zusammenwachsenden wirtschaftlichen Grundlage, die alle Völker und Länder zu einem großen Ganzen verbindet, und dem politischen Überbau der Staaten, welcher die Völker durch Grenzpfähle, Zollschranken und Militarismus künstlich in ebenso viele fremde und feindliche Teile zu spalten sucht.

Und all dies existiert nicht für die Bücher, Sombart und ihre Kollegen! Für sie existiert nur der »immer vollkommenere Mikrokosmos«! Sie sehen weit und breit keine »besonderen Erscheinungen«, die von einer Volkswirtschaft »in wesentlichen Merkmalen abweichen« würden! Ist das nicht ein Rätsel? Ist eine ähnliche Blindheit offizieller Vertreter der Wissenschaft für Phänomene, die in ihrer Fülle und ihrer grellen, blitzartigen Leucht- |563| kraft auf die Sinne jedes Beobachters einstürmen, auf irgendeinem anderen Gebiete des Wissens als dem der Nationalökonomie denkbar? In der Naturwissenschaft würde jedenfalls ein Gelehrter von Ruf, der heute öffentlich die Ansicht vertreten wollte, daß nicht die Erde um die Sonne, sondern die Sonne mit sämtlichen Gestirnen um die Erde als ihrem Mittelpunkt kreise, der behaupten würde, daß er »gar keine Erscheinungen kenne«, die dieser seiner Ansicht »in wesentlichen Merkmalen« widersprächen - ein solcher Gelehrter dürfte sicher sein, dem homerischen Gelächter der ganzen gebildeten Welt zu begegnen und schließlich auf Betreiben der bekümmerten Verwandten auf seinen Geisteszustand untersucht zu werden. Freilich, vor 400 Jahren wurden solche Ansichten nicht nur ungestraft verbreitet, sondern ein jeder, der es unternahm, ihre Verkehrtheit öffentlich darzutun, lief selbst Gefahr, auf dem Scheiterhaufen zu enden. Damals lag die Aufrechterhaltung der irrigen Meinung, als ob die Erde Mittelpunkt der Welt und der Bewegung der Gestirne wäre, im dringenden Interesse der katholischen Kirche, und jeder Angriff auf die eingebildete Majestät des Erdballs im Weltraum war zugleich ein Attentat auf die geistige Zwingherrschaft der Kirche und auf ihre Zehnten auf der platten Erde. Damals war also die Naturwissenschaft der kitzlige Nervenpunkt des herrschenden Gesellschaftssystems und die naturwissenschaftliche Mystifikation ein unentbehrliches Instrument der Knechtung. Heute, unter der Herrschaft des Kapitals, liegt der kitzlige Punkt des Gesellschaftssystems nicht im Glauben an die Mission der Erde im blauen Himmelsraum, sondern im Glauben an die Mission des bürgerlichen Staates auf Erden. Und weil auf den gewaltigen Wogen der Weltwirtschaft bereits schwere Nebel aufsteigen und sich zusammenballen, weil sich dort Stürme vorbereiten, die den »Mikrokosmos« des bürgerlichen Staates wie einen Hühnerstall vom Erdboden hinwegfegen werden, deshalb stürzt die wissenschaftliche »Schweizergarde« der Kapitalsherrschaft vor die Tore ihrer Zwingburg, des »Nationalstaates«, um sie bis zum letzten Atemhauche zu verteidigen. Das erste Wort, der Grundbegriff der heutigen Nationalökonomie ist eine wissenschaftliche Mystifikation im Interesse der Bourgeoisie.


Redaktionelle Anmerkungen

[1] Karl Bücher: Die Entstehung der Volkswirtschaft. Vorträge und Versuche, Tübingen 1906, S. 142. <=

[2] Punkte in der Quelle. <=


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