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Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 5. Berlin/DDR. 1975. »Einführung in die Nationalökonomie«, S. 762-768.
1. Korrektur
Erstellt am 20.10.1998

Rosa Luxemburg - Einführung in die Nationalökonomie

IV. Lohnarbeit - 6.


|762| Erst wenn wir alle dargelegten Folgen des Lohnverhältnisses zusammenfassen, können wir uns das kapitalistische Lohngesetz vorstellen, das die materielle Lebenslage des Arbeiters bestimmt. Es ist also dabei vor allem der absolute Lohn vom relativen Lohn zu unterscheiden. Der absolute |763| Lohn wiederum erscheint in der doppelten Gestalt: einmal als eine Geldsumme, das heißt als nomineller Lohn, zweitens als eine Summe Existenzmittel, die der Arbeiter für dieses Geld erwerben kann, das heißt als reeller Lohn. Der Geldlohn der Arbeiter kann konstant bleiben oder auch steigen, und die Lebenshaltung, das heißt der reelle Lohn, kann dabei sinken. Der reelle Lohn hat nun die ständige Tendenz, auf das absolute Minimum, auf das physische Existenzminimum zu sinken, das heißt, es besteht die ständige Tendenz des Kapitals, die Arbeitskraft unter ihrem Werte zu bezahlen. Ein Gegengewicht wird dieser Tendenz des Kapitals erst durch die Arbeiterorganisation geschaffen. Die Hauptfunktion der Gewerkschaften besteht darin, daß sie durch die Erhöhung der Bedürfnisse der Arbeiter, durch ihre sittliche Hebung, an Stelle des physischen Existenzminimums erst das kulturelle gesellschaftliche Existenzminimum, das heißt eine bestimmte kulturelle Lebenshaltung der Arbeiter schaffen, unter welche die Löhne nicht herabgehen können, ohne sofort einen Kampf der Koalition, eine Abwehr hervorzurufen. Darin liegt namentlich auch die große ökonomische Bedeutung der Sozialdemokratie, daß sie durch die geistige und politische Aufrüttelung der breiten Massen der Arbeiter ihr kulturelles Niveau und dadurch ihre ökonomischen Bedürfnisse erhöht. Indem zum Beispiel das Abonnieren einer Zeitung, das Kauten von Broschüren zu Lebensgewohnheiten des Arbeiters werden, erhöht sich dem genau entsprechend seine wirtschaftliche Lebenshaltung und infolgedessen die Löhne. Die Wirkung der Sozialdemokratie in dieser Hinsicht ist von doppelter Tragweite, insofern die Gewerkschaften eines gegebenen Landes mit der Sozialdemokratie eine offene Allianz unterhalten, weil alsdann die Gegnerschaft zur Sozialdemokratie auch die bürgerlichen Schichten zur Gründung von Konkurrenzgewerkschaften treibt, die ihrerseits die erzieherische Wirkung der Organisation und die Hebung des Kulturniveaus in weitere Kreise des Proletariats tragen. So sehen wir, daß in Deutschland außer den freien Gewerkschaften, die mit der Sozialdemokratie liiert sind, zahlreiche christliche, katholische und freisinnige Gewerkvereine wirken. Desgleichen werden in Frankreich zur Bekämpfung der sozialistischen Gewerkschaften sogenannte gelbe Gewerkschaften gegründet, in Rußland sind die heftigsten Ausbrüche der jetzigen revolutionären Massen- |764| streiks von »gelben«, regierungsfrommen Gewerkschaften ausgegangen. Hingegen in England, wo die Gewerkschaften sich vom Sozialismus fernhalten, bemüht sich die Bourgeoisie nicht, selbst in die proletarischen Schichten den Gedanken der Koalition zu tragen.

Die Gewerkschaft spielt also eine unentbehrliche organische Rolle bei dem modernen Lohnsystem. Erst durch die Gewerkschaft wird nämlich die Arbeitskraft als Ware in die Lage versetzt, zu ihrem Wert verkauft zu werden. Das kapitalistische Warengesetz wird in bezug auf die Arbeitskraft durch die Gewerkschaften nicht aufgehoben, wie Lassalle irrtümlich annahm, sondern umgekehrt durch sie erst verwirklicht. Der systematische Schleuderpreis, zu dem der Kapitalist die Arbeitskraft zu kaufen bestrebt ist, wird dank der gewerkschaftlichen Aktion zum mehr oder weniger reellen Preis gehoben.

Diese ihre Funktion üben die Gewerkschaften jedoch mitten unter dem Druck der mechanischen Gesetze der kapitalistischen Produktion aus, nämlich erstens der ständigen Reservearmee nichtbeschäftigter Arbeiter und zweitens des beständigen Wechsels des Hoch- und Niedergangs der Konjunktur. Beide Gesetze pressen die Wirkung der Gewerkschaften in unüberwindliche Schranken ein. Der beständige Wechsel der industriellen Konjunktur zwingt die Gewerkschaften dazu, bei jedem Niedergang die alten Errungenschaften vor neuen Angriffen des Kapitals zu verteidigen und bei jedem Hochgang erst durch Kampf den herabgedrückten Lohnstand auf das der günstigen Situation entsprechende Niveau wieder zu heben. Die Gewerkschaften werden somit stets in die Defensive verwiesen. Die industrielle Reservearmee der Arbeitslosen aber schränkt die Wirkung der Gewerkschaften sozusagen räumlich ein: Der Organisation und ihrer Einwirkung ist nur zugänglich die obere Schicht der besser situierten Industriearbeiter, bei denen die Arbeitslosigkeit nur eine periodische und nach dem marxschen Ausdruck »fließende« ist. Dagegen die tieferstehende Schicht der ständig vom flachen Lande nach der Stadt strömenden ungelernten Ackerbauproletarier sowie aller halbländlichen unregelmäßigen Berufe, wie Ziegelfabrikation, Erdarbeiten, eignet sich schon durch die räumlichen und zeitlichen Bedingungen ihrer Beschäftigungsart sowie durch das soziale Milieu bedeutend weniger zur gewerkschaftlichen Organisation. Endlich die breiten unteren Schichten der Reservearmee: die Arbeitslosen mit unregelmäßiger Beschäftigung, die Hausindustrie, weiter die zufällig beschäftigten Armen entziehen sich ganz der Organisation. Im allgemeinen: Je größer die Not und der Druck in einer proletarischen Schicht, um so geringer die Möglichkeit der gewerkschaftlichen |765| Einwirkung. Die gewerkschaftliche Aktion wirkt also sehr schwach in die Tiefe des Proletariats, dagegen stark in die Breite, das heißt, wenn die Gewerkschaften auch nur einen Teil der obersten Schicht des Proletariats umfassen, ihre Einwirkung erstreckt sich auf die ganze Schicht, weil ihre Errungenschaften der ganzen Masse der in den betreffenden Berufen beschäftigten Arbeiter zugute kommen. Daher wirkt die gewerkschaftliche Aktion auf eine stärkere Differenzierung innerhalb der proletarischen Masse, indem sie die oberen, organisationsfähigen Vordertruppen der Industriearbeiter aus dem Elend emporhebt, zusammenfaßt und konsolidiert. Der Abstand zwischen der oberen Schicht und den unteren Schichten der Arbeiterklasse wird dadurch größer. In keinem Lande ist er so groß wie in England, wo die ergänzende kulturelle Wirkung der Sozialdemokratie auf die tieferen, wenig organisationsfähigen Schichten ausbleibt, wie sie zum Beispiel in Deutschland stark zur Geltung kommt.

Bei der Darstellung der kapitalistischen Lohnverhältnisse ist es ganz falsch, nur die tatsächlich gezahlten Löhne der beschäftigten Industriearbeiter zu berücksichtigen, wie dies meistens auch bei den Arbeitern selbst eine von der Bourgeoisie und ihren Soldschreibern gedankenlos übernommene Gewohnheit ist. Die ganze Reservearmee der Arbeitslosen, von den vorübergehend unbeschäftigten qualifizierten Arbeitern bis hinab zu der tiefsten Armut und dem offiziellen Pauperismus, geht in die Bestimmung der Lohnverhältnisse als gleichberechtigter Faktor ein. Die untersten Schichten der schwach oder gar nicht beschäftigten Notleidenden und Ausgestoßenen sind nicht etwa ein Auswurf, der zu der »offiziellen Gesellschaft« nicht zählt, wie dies die Bourgeoisie wohlverstanden hinstellt, sondern sie sind durch alle Zwischenglieder der Reservearmee mit der obersten, bestsituierten industriellen Arbeiterschicht durch innere lebendige Bande verbunden. Dieser innere Zusammenhang zeigt sich ziffernmäßig durch das jedesmalige plötzliche Wachstum der unteren Schichten der Reservearmee in Zeiten schlechten Geschäftsgangs und ihr Zusammenschrumpfen in besseren Konjunkturen, ferner durch die relative Abnahme der Zahl der zu der öffentlichen Armenunterstützung Zuflucht Nehmenden mit der Entwicklung des Klassenkampfes und dadurch der Hebung des Selbstgefühls in der proletarischen Masse. Und endlich: Jeder Industriearbeiter, der bei der Arbeit verkrüppelt oder der das Unglück hat, 60 Jahre zu werden, hat 50 Chancen gegen 100, selbst in die untere Schicht der bitteren Armut, in die »Lazarusschicht« des Proletariats, herabzusinken. Die Lebenslage der tiefsten Schichten des Proletariats wird also von denselben Gesetzen der kapitalistischen Produktion bewegt, auf und ab ge- |766| zerrt, und das Proletariat bildet erst mitsamt der breiten Schicht der ländlichen Arbeiter wie mit seiner Armee der Arbeitslosen und mit allen Schichten, von den obersten bis zu den untersten, ein organisches Ganzes, eine soziale Klasse, an deren verschiedenen Abstufungen der Not und des Druckes man das kapitalistische Lohngesetz im ganzen richtig erfassen kann. Endlich aber heißt es nur die Hälfte des Lohngesetzes erfassen, wenn man bloß die Bewegungen des absoluten Lohnes erkannt hat. Das Gesetz des mechanischen Sinkens des relativen Lohnes mit dem Fortschritt der Produktivität der Arbeit vervollständigt erst das kapitalistische Lohngesetz zu seiner wirklichen Tragweite.

Die Beobachtung, daß die Löhne der Arbeiter durchschnittlich die Tendenz haben, auf dem Minimum der notwendigen Lebensmittel zu stehen, wurde schon im 18. Jahrhundert von den französischen und englischen Begründern der bürgerlichen Nationalökonomie gemacht. Sie erklärten aber den Mechanismus, durch den dieses Lohnminimum geregelt wird, in eigentümlicher Weise, nämlich durch Schwankungen im Angebot der arbeitsuchenden Kräfte. Wenn die Arbeiter größere Löhne kriegen, als absolut notwendig zum Leben, erklärten jene Gelehrten, dann heiraten sie häufig und setzen viele Kinder in die Welt. Dadurch wird wieder der Arbeitsmarkt so überfüllt, daß er die Nachfrage des Kapitals weit übertrifft. Das Kapital drückt dann, benutzend die große Konkurrenz unter den Arbeitern, die Löhne stark herab. Reichen die Löhne aber nicht zum notwendigen Lebensunterhalt, dann sterben die Arbeiter massenhaft aus, ihre Reihen lichten sich, bis nur so viel bleiben, wie das Kapital brauchen kann, und damit gehen die Löhne wieder in die Höhe. Durch dieses Pendeln zwischen übermäßiger Vermehrung und übermäßiger Sterblichkeit in der Arbeiterklasse werden die Löhne immer wieder auf das Minimum der Lebensmittel zurückgebracht. Diese Theorie, die bis in die sechziger Jahre in der Nationalökonomie herrschte, hatte auch Lassalle übernommen und nannte sie das »eherne, unerbittliche Gesetz«...[1]

Die schwachen Seiten dieser Theorie liegen heute bei der vollen Entwicklung der kapitalistischen Produktion auf flacher Hand. Die Großindustrie kann nämlich bei dem fieberhaften Gang der Geschäfte und der Konkurrenz mit dem Herabdrücken der Löhne nicht warten, bis die Arbeiter erst durch den Überfluß zu oft heiraten, dann zuviel Kinder in die Welt setzen, bis diese Kinder erwachsen werden und auf dem Arbeitsmarkt erscheinen, um hier die erwünschte Überfüllung herbeizuführen. Die Bewegung der Löhne hat entsprechend dem Puls der Industrie nicht |767| die gemütliche Gangart eines Pendels, dessen jede Schwingung ein Generationsalter, das heißt 25 Jahre dauert, sondern die Löhne befinden sich in unaufhörlicher vibrierender Bewegung, so daß weder die Arbeiterklasse sich mit ihrer Fortpflanzung auf die Lohnhöhe einzurichten die Möglichkeit hat noch die Industrie mit ihrer Nachfrage auf die Fortpflanzung der Arbeiter warten kann. Zweitens wird der Arbeitsmarkt der Industrie überhaupt in seiner Größe nicht durch die natürliche Fortpflanzung der Arbeiter bestimmt, sondern durch den beständigen Zufluß der frischen proletarisierten Schichten vom flachen Lande, aus dem Handwerk und der Kleinindustrie sowie der eigenen Frauen und Kinder der Arbeiter. Die Überfüllung des Arbeitsmarktes ist eben in der Gestder Reservearmee eine ständige Erscheinung und eine Lebensbedingung der modernen Industrie. Es ist somit nicht der Wechsel im Angebot der Arbeitskräfte, nicht die Bewegung der Arbeiterklasse, sondern der Wechsel in der Nachfrage des Kapitals, seine Bewegung, die für die Lohnhöhe maßgebend ist. Die Arbeitskraft ist als eine in Überzahl vorhandene Ware stets auf Lager, sie wird besser oder schlechter entlohnt, je nachdem es dem Kapital gefällt, in einer Hochkonjunktur stark die Arbeitskraft aufzusaugen oder sie im Katzenjammer der Krise wieder massenhaft auszuspeien.

Der Mechanismus des Lohngesetzes ist also ein ganz anderer, als die bürgerliche Nationalökonomie und Lassalle annahmen. Das Resultat jedoch, das heißt die tatsächlich daraus sich ergebende Gestaltung der Lohnverhältnisse, ist eine noch schlimmere als nach jener alten Annahme. Das kapitalistische Lohngesetz ist zwar nicht ein »ehernes«, aber noch unerbittlicher und grausamer, weil es ein »elastisches« Gesetz ist, das die Löhne der beschäftigten Arbeiter in der Weise auf das Minimum der Existenzmittel herabzudrücken sucht, daß es gleichzeitig eine ganze große Schicht Unbeschäftigter an einem dünnen elastischen Schmachtseil zwischen Sein und Nichtsein zappeln läßt.

Die Aufstellung des »ehernen Lohngesetzes« mit seinem aufreizenden revolutionierenden Charakter war nur in den Anfängen, in den Jugendjahren der bürgerlichen Nationalökonomie möglich. Von dem Augenblick, wo Lassalle dieses Gesetz zur Achse seiner Agitation in Deutschland gemacht hatte, beeilten sich die nationalökonomischen Lakaien der Bourgeoisie, das eherne Lohngesetz abzuschwören, es für falsch, für eine Irrlehre zu erklären und zu verdammen, Eine ganze Meute von ordinären bezahlten Agenten des Fabrikantentums, wie Faucher, Schulze aus Delitzsch, Max Wirth, eröffneten einen Kreuzzug gegen Lassalle und das eherne Lohngesetz und besudelten dabei rücksichtslos die eigenen Vor- |768| fahren: die Adam Smith, Ricardo und andere große Schöpfer der bürgerlichen Nationalökonomie. Seitdem Marx das elastische Lohngesetz des Kapitalismus unter der Wirkung der industriellen Reservearmee im Jahre 1867 aufgeklärt und nachgewiesen hat,[2] verstummten die bürgerlichen Nationalökonomen endgültig. Heute hat die offizielle Professoralwissenschaft der Bourgeoisie überhaupt kein Lohngesetz, sie zieht vor, das heikle Thema zu umgehen und nur unzusammenhängendes Geplapper über die Bedauerlichkeit der Arbeitslosigkeit und über den Nutzen gemäßigter und bescheidener Gewerkschaften vorzutragen.

Dasselbe Schauspiel in bezug auf die andere Hauptfrage der Nationalökonomie: Wie bildet sich, woher kommt der Profit des Kapitalisten? Wie über den Anteil des Arbeiters, so über den Anteil des Kapitalisten am Reichtum der Gesellschaft geben die erste wissenschaftliche Antwort schon die Begründer der Nationalökonomie im 18. Jahrhundert. Die klarste Form gab dieser Theorie David Ricardo, der scharf und logisch den Profit des Kapitalisten als die unbezahlte Arbeit des Proletariers erklärte.


Redaktionelle Anmerkungen

[1] Punkte in der Quelle. <=

[2] Siehe Karl Marx: Das Kapital, Erster Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 23, S. 657-688.<=


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