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Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 5. Berlin/DDR. 1975. »Einführung in die Nationalökonomie«, S. 524-530
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Rosa Luxemburg - Einführung in die Nationalökonomie

I. Was ist Nationalökonomie? - 1.


|524| Die Nationalökonomie ist eine merkwürdige Wissenschaft. Die Schwierigkeit und der Streit der Meinungen beginnt schon bei dem ersten Schritt, den man auf ihr Gebiet tut, schon bei der allerelementarsten Frage: Was ist der eigentliche Gegenstand dieser Wissenschaft. Der einfache Arbeiter, der nur eine ganz vage Vorstellung davon hat, was die Nationalökonomie lehrt, wird seine Unklarheit der eigenen mangelhaften allgemeinen Bildung zuschreiben. Doch teilt er sein Mißgeschick diesmal in gewissem Sinne mit vielen gelehrten Doktoren und Professoren, die über die Nationalökonomie dickbändige Werke schreiben und Vorlesungen für die studierende Jugend an den Universitäten halten. So unglaubwürdig es |525| klingt, so ist es doch Tatsache, daß die meisten Fachgelehrten der Nationalökonomie einen sehr verschwommenen Begriff davon haben, was der wirkliche Gegenstand ihrer Gelehrsamkeit ist.

Da es Brauch bei den Herren Fachgelehrten, mit Definitionen zu arbeiten, das heißt das Wesen der kompliziertesten Dinge in einigen wohlgeordneten Sätzen zu erschöpfen, so versuchen wir zur Probe von einem amtlichen Vertreter der Nationalökonomie zu erfahren, was diese Wissenschaft im Grunde genommen sei. Hören wir zunächst, was der Senior der deutschen Professorenwelt, der Verfasser einer Unzahl erschreckend dicker Lehrbücher über die Nationalökonomie, der Begründer der sogenannten »historischen Schule«, Wilhelm Roscher, darüber zu sagen weiß. In seinem ersten großen Werke »Grundlagen der Nationalökonomie. Ein Hand und Lesebuch für Geschäftsmänner und Studierende«, das 1854 erschienen ist und seitdem 23 Auflagen erlebt hat, lesen wir im 2. Kapitel, Paragraph 16:

»Wir verstehen unter Nationalökonomik, Volkswirtschaftslehre, die Lehre von den Entwicklungsgesetzen der Volkswirtschaft, des wirtschaftlichen Volkslebens (Philosophie der Volkswirtschaftsgeschichte nach von Mangoldt). Sie knüpft sich, wie alle Wissenschaften vom Volksleben, einerseits an die Betrachtung des einzelnen Menschen an; sie erweitert sich auf der anderen Seite zur Erforschung der ganzen Menschheit.«[1]

Verstehen nun die »Geschäftsmänner und Studierenden«, was die Volkswirtschaftslehre ist? Es ist eben - die Lehre von der Volkswirtschaft. Was ist eine Hornbrille? Eine Brille in Horneinfassung. Was ist ein Packesel? Ein Esel, auf den Lasten gepackt werden. Ein höchst einfaches Verfahren in der Tat, um kleinen Kindern den Gebrauch zusammengesetzter Worte zu erläutern. Das Üble dabei ist nur, daß, wer vorher den Sinn der fraglichen Worte nicht verstand, auch nicht klüger wird, ob die Worte so oder anders gestellt werden.

Wenden wir uns an einen anderen deutschen Gelehrten, an den jetzigen Lehrer der Nationalökonomie an der Berliner Universität, der eine Leuchte der amtlichen Wissenschaft ist, berühmt »weit über die Lande, bis an das blaue Meer«, an den Professor Schmoller. In dem großen Sammelwerk deutscher Professoren »Handwörterbuch der Staatswissenschaften«, herausgegeben von Professor Conrad und Professor Lexis, gibt Schmoller in einem Aufsatz über die Volkswirtschaftslehre auf die Frage, was diese Wissenschaft sei, die folgende Antwort: »Ich möchte sagen, sie ist die |526| Wissenschaft, welche die volkswirtschaftlichen Erscheinungen beschreiben, definieren und aus Ursachen erklären sowie als ein zusammenhängendes Ganzes begreifen will, wobei freilich vorausgesetzt ist, daß die Volkswirtschaft vorher richtig definiert sei. Im Mittelpunkt der Wissenschaft stehen die bei den heutigen Kulturvölkern sich wiederholenden typischen Erscheinungen der Arbeitsteilung und -organisation, des Verkehrs, der Einkommensverteilung, der gesellschaftlichen Wirtschaftseinrichtungen, welche, an bestimmte Formen des privaten und öffentlichen Rechts angelehnt, von gleichen oder ähnlichen psychischen Kräften beherrscht, ähnliche oder gleiche Anordnungen oder Kräfte erzeugen, in ihrer Gesamtbeschreibung eine Statik der gegenwärtigen wirtschaftlichen Kulturwelt, eine Art durchschnittlicher Verfassung derselben darstellen. Von da aus hat die Wissenschaft dann die Abweichungen der einzelnen Volkswirtschaften voneinander, die verschiedenen Formen der Organisation da und dort zu konstatieren gesucht, hat gefragt, in welcher Verbindung und Folge die verschiedenen Formen vorkommen, und ist so zu der Vorstellung der kausalen Entwicklung der Formen auseinander und der historischen Aufeinanderfolge wirtschaftlicher Zustände gekommen; sie hat so zu der statischen die dynamische Betrachtung gefügt. Und wie sie in ihrem ersten Auftreten schon vermöge sittlich-historischer Werturteile zur Aufstellung von Idealen kam, so hat sie diese praktische Funktion stets bis auf einen gewissen Grad beibehalten. Sie hat neben der Theorie stets praktische Lehren fürs Leben aufgestellt.«[2]

Uff! Holen wir Atem. Wie war's also? Gesellschaftliche Wirtschaftseinrichtungen - privates und öffentliches Recht - psychische Kräfte - Ähnliches und Gleiches - Gleiches und Ähnliches - Statistik - Statik - Dynamik - durchschnittliche Verfassung - kausale Entwicklung - sittlich-historische Werturteile ...[3] Dem gewöhnlichen Sterblichen wird sicher bei alledem so dumm, als ging' ihm ein Mühlrad im Kopfe herum. In seinem beharrlichen Wissensdrang und in blindem Vertrauen auf den professoralen Weisheitsborn wird er sich Mühe geben, den Galimathias zweimal, dreimal mit Anstrengung durchzunehmen, um irgendeinen greifbaren Sinn herauszufinden. Wir fürchten, es wird vergebliche Mühe sein. Es ist eben nichts als klingende Phrasen, als geschraubtes Wortgebimmel, was hier geboten wird. Und dafür gibt es ein untrügliches Zeichen: Wer klar denkt und die Sache, von der er spricht, selbst gründlich beherrscht, drückt sich |527| auch klar und verständlich aus. Wer sich dunkel und verstiegen ausdrückt, wo es sich nicht um reine Gedankenbilder der Philosophie oder Hirngespinste der religiösen Mystik handelt, zeigt nur, daß er über die Sache selbst im unklaren ist oder aber der Klarheit aus dem Wege zu gehen Ursache hat. Wir werden später sehen, daß die dunkle und verwirrende Sprache der bürgerlichen Gelehrten über das Wesen der Nationalökonomie kein Zufall ist, daß in ihr vielmehr beides zum Ausdruck kommt: sowohl die eigene Unklarheit der Herren wie auch ihre tendenziöse, verbissene Abneigung gegen die wirkliche Aufklärung der Frage.

Daß die klare Bestimmung des Wesens der Nationalökonomie in der Tat eine strittige Frage ist, kann ein äußerer Umstand plausibel machen. Es ist dies die Tatsache, daß über das Alter der nationalökonomischen Wissenschaft die widersprechendsten Ansichten geäußert worden sind. Ein bekannter alter Geschichtsschreiber und ehemals Professor der Nationalökonomie an der Pariser Universität, Adolphe Blanqui - Bruder des berühmten Sozialistenführers und Kommunekämpfers Auguste Blanqui - beginnt zum Beispiel das erste Kapitel seiner 1837 erschienenen »Geschichte der wirtschaftlichen Entwicklung« [4] mit folgender Inhaltsüberschrift: »Die politische Ökonomie (dies der französische Ausdruck für Nationalökonomie - R. L.) ist älter, als man denkt. Die Griechen und die Römer hatten bereits die ihrige.« Andere nationalökonomische Geschichtsschreiber, wie zum Beispiel der ehemalige Dozent an der Berliner Universität Eugen Dühring, halten es für wichtig, umgekehrt zu betonen, die Nationalökonomie sei viel jünger, als man gewöhnlich denke, diese Wissenschaft sei eigentlich erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden.[5] Um auch sozialistische Urteile hierüber anzuführen, so macht Lassalle 1864 im Vorwort zu seiner klassischen Streitschrift wider Schulze-Delitzsch »Kapital und Arbeit« die folgende Äußerung:

»Die Nationalökonomie ist eine Wissenschaft, für die erst Anfänge existieren und die noch zu machen ist.«[6]

Hingegen hat Karl Marx seinem ökonomischen Hauptwerk »Das Kapital«, dessen erster Band drei Jahre später, gleichsam als die Erfüllung der von Lassalle ausgesprochenen Erwartung erschienen ist, den Untertitel |528| »Kritik der politischen Ökonomie« gegeben. Auf diese Weise stellt Marx sein eigenes Werk außerhalb der bisherigen Nationalökonomie, betrachtet diese als etwas Abgeschlossenes, Fertiges, an dem er seinerseits Kritik übt. Es ist klar, daß eine Wissenschaft, von der die einen behaupten, sie sei fast so wie die geschriebene Geschichte der Menschheit, die anderen, sie sei kaum anderthalb Jahrhunderte alt, die dritten, sie sei überhaupt noch erst in den Windeln, wieder andere aber, sie habe bereits abgelebt und es sei Zeit, sie kritisch zu bestatten - es ist klar, daß eine solche Wissenschaft ein ziemlich eigenartiges und verwickeltes Problem darstellt.

Ebenso übel wären wir aber beraten, wenn wir einen von den amtlichen Vertretern dieser Wissenschaft fragen würden, wie denn eigentlich die merkwürdige Tatsache zu erklären sei, daß die Nationalökonomie, wie das ja jetzt vorherrschende Meinung, erst so spät, kaum vor etwa 150 Jahren, entstanden sei? Der Professor Dühring zum Beispiel wird uns unter großem Wortschwall auseinandersetzen, daß die alten Griechen und Römer über nationalökonomische Dinge noch gar keine wissenschaftlichen Begriffe, sondern bloß »unzurechnungsfähige«, »oberflächliche«, »allergewöhnlichste« Ideen aus der täglichen Erfahrung hatten, das Mittelalter aber überhaupt höchst »unwissenschaftlich« gewesen sei.[7] Welche gelehrte Erklärung uns offenbar um keinen Schritt vorwärtsbringt, abgesehen davon, daß sie, zumal in ihren Verallgemeinerungen über das Mittelalter, auch ganz irreführend ist.

Eine andere originelle Erklärung bringt Professor Schmoller fertig. In demselben Aufsatz, den wir oben aus dem »Handwörterbuch der Staatswissenschaften« angeführt haben, gibt er das Folgende zum besten:

»Jahrhundertelang waren einzelne privat und sozialwirtschaftliche Tatsachen beobachtet und beschrieben, einzelne volkswirtschaftliche Wahrheiten erkannt, in den Moral- und Rechtssystemen wirtschaftliche Fragen erörtert worden. Zu einer besonderen Wissenschaft konnten die einzelnen hierhergehörigen Teile sich erst vereinigen, als die volkswirtschaftlichen Fragen zu früher nie geahnter Bedeutung für die Leitung und Verwaltung der Staaten im 17. bis 19. Jahrhundert gelangten, zahlreiche Schriftsteller sich mit ihnen beschäftigten, eine Unterweisung der studierenden Jugend in ihnen nötig wurde und zugleich der Aufschwung des wissenschaftlichen Denkens überhaupt dazu führte, die gesammelten volkswirtschaftlichen Sätze und Wahrheiten zu einem selbständigen, durch gewisse Grundgedanken - wie Geld und Tauschverkehr, staatliche Wirt- |529| schaftspolitik, Arbeit und Arbeitsteilung - verbundenen Systeme zu verknüpfen, wie es die bedeutenden Schriftsteller des 18. Jahrhunderts versuchten. Seither besteht die Volkswirtschaftslehre oder Nationalökonomie als selbständige Wissenschaft.«[8]

Faßt man der langen Rede kurzen Sinn zusammen, so erhalten wir die Belehrung: Einzelne nationalökonomische Beobachtungen, die lange Zeit zerstreut vorlagen, haben sich zu einer besonderen Wissenschaft zusammengeschlossen, als ein Bedürfnis der »Leitung und Verwaltung der Staaten«, das heißt der Regierungen danach vorlag und als es zu diesem Zwecke nötig wurde, an den Universitäten die Nationalökonomie zu lehren. Wie wundervoll, wie klassisch ist diese Erklärung für einen deutschen Professor! Erst wird aus einem »Bedürfnis« der hochwohllöblichen Regierung heraus ein Katheder gegründet, auf dem ein diensteifriger Professor Platz nimmt; alsdann muß natürlich auch die entsprechende Wissenschaft geschaffen werden, denn was sollte der Professor sonst wohl lehren? Wer denkt da nicht an jenen Hofzeremonienmeister, der behauptete, die Monarchien müßten immer bestehenbleiben; denn gäbe es diese nicht, zu was wäre er, der Hofzeremonienmeister, auf der Welt. Doch der Kern der Sache: Die Nationalökonomie ist entstanden, weil die Regierungen der modernen Staaten diese Wissenschaft brauchten. Die Bestellung der Obrigkeit ist die eigentliche Geburtslegitimation der Nationalökonomie. Der Denkweise eines heutigen Professors, der als wissenschaftlicher Kammerdiener der jeweiligen Reichsregierung in ihrem Auftrage für eine beliebige Flottenvorlage, Zoll oder Steuervorlage »wissenschaftliche« Agitation treibt oder als Hyäne des Schlachtfeldes während eines Krieges chauvinistische Völkerverhetzung und geistigen Kannibalismus predigt, entspricht es nun freilich vollkommen, sich einzubilden, daß das Geldbedürfnis der Fürsten, die Interessen der »fürstlichen Schatzkammern«, daß ein Kommandowort der Regierungen genügt, um selbst eine ganz neue Wissenschaft aus dem Boden zu stampfen. Für die übrige, nicht vom Fiskus besoldete Menschheit wird eine solche Vorstellung indes ihre Schwierigkeiten haben. Vor allem aber gibt uns auch diese Erklärung nur ein neues Rätsel auf. Denn nun müssen wir fragen: Was ist geschehen, daß um das 17. Jahrhundert herum, wie Professor Schmoller behauptet, die Regierungen der modernen Staaten plötzlich ein Bedürfnis verspüren, ihren lieben Untertanen nach wissenschaftlichen Grundsätzen das Fell über die Ohren zu ziehen, während sie dies jahrhundertelang zuvor mit |530| gutem Erfolg ohne solche Grundsätze in altväterischer Weise besorgten? Sollten nicht auch hier die Dinge auf den Kopf gestellt werden und die neumodischen Bedürfnisse der »fürstlichen Schatzkammern« vielleicht selbst nur eine bescheidene Folge jenes großen geschichtlichen Umschwungs gewesen sein, aus dem die neue Wissenschaft der Nationalökonomie um die Mitte des 19. Jahrhunderts entsprossen ist?

Kurzum: Nachdem wir erst von den Zunftgelehrten nicht erfahren haben, was die Nationalökonomie eigentlich behandelt, wissen wir erst recht nicht, wann und weshalb sie entstanden ist.


Redaktionelle Anmerkungen

[1] Wilhelm Roscher: Grundlagen der Nationalökonomie. Ein Hand- und Lesebuch für Geschäftsmänner und Studierende, Stuttgart 1900, S. 41. <=

[2] Gustav Schmoller: Volkswirtschaft, Volkswirtschaftslehre und -methode. In: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Siebenter Band, Jena 1901, S. 546/547. <=

[3] Punkte in der Quelle. <=

[4] Adolphe Blanqui: Histoire de l'économie politique en Europe, depuis les anciene jusqué à nos jours, Paris 1837. <=

[5] Siehe Eugen Dühring: Kritische Geschichte der Nationalökonomie und des Sozialismus von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Leipzig 1899, S. 16. <=

[6] Ferdinand Lassalle: Herr Bastiat - Schulze von Delitzsch, der ökonomische Julian, oder Kapital und Arbeit. In: Ferd. Lassalle's Reden und Schriften. Neue Gesammt-Ausgabe. Mit eines biographischen Einleitung hrsg. von Ed. Bernstein, Dritter Band, Berlin 1893, S. 18. <=

[7] Siehe Eugen Dühring: Kritische Geschichte der Nationalökonomie und des Sozialismus von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Leipzig 1899, S. 20-26. <=

[8] Gustav Schmoller: Volkswirtschaft, Volkswirtschaftslehre und -methode. In: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Siebenter Band, Jena 1901, S. 546. <=


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