Unser Kampf | 15. Kapitel | Inhalt | 17. Kapitel | Rosa Luxemburg

Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 5. Berlin/DDR. 1975. »Die Akkumulation des Kapitals«, S. 196-209.
1. Korrektur
Erstellt am 20.10.1998

Rosa Luxemburg - Die Akkumulation des Kapitals

Sechzehntes Kapitel.
Rodbertus' Kritik der klassischen Schule


|196| Rodbertus gräbt tiefer als v. Kirchmann. Er sucht die Wurzeln des Übels in den Grundlagen selbst der gesellschaftlichen Organisation und erklärt der herrschenden Freihandelsschule erbitterten Krieg. Freilich nicht gegen das System des ungehinderten Warenverkehrs oder der Gewerbefreiheit, die er voll und ganz akzeptiert, zieht er ins Feld, sondern gegen das Manchestertum, das laissez faire in den inneren sozialen Verhältnissen der |197| Wirtschaft. Zu seiner Zeit war auf die Sturm-und-Drang-Periode der klassischen Ökonomie bereits jenes skrupellose Apologetentum zur Herrschaft gelangt, das in dem fabelhaften Vulgarus und Abgott aller Philister, dem Herrn Frédéric Bastiat mit seinen »Harmonien«, den gelungensten Ausdruck fand, und bald sollten auch verschiedene Schulzes als der kümmerlich-spießerliche deutsche Abklatsch des französischen Harmoniepropheten grassieren. Gegen diese skrupellosen »Freihandelshausierburschen« richtete sich die Kritik Rodbertus'. »Fünf Sechsteile der Nation«, ruft er in seinem »Ersten socialen Brief an von Kirchmann« (1850), »werden bisher durch die Geringfügigkeit ihres Einkommens nicht bloß von den meisten Wohltaten der Zivilisation ausgeschlossen, sondern unterliegen dann und wann den furchtbarsten Ausbrüchen wirklichen Elends und sind immerdar dessen drohender Gefahr ausgesetzt. Dennoch sind sie die Schöpfer alles gesellschaftlichen Reichtums. Ihre Arbeit beginnt mit aufgehender, endigt mit niedergehender Sonne, erstreckt sich bis in die Nacht hinein, aber keine Anstrengung vermag dies Los zu ändern. Ohne ihr Einkommen erhöhen zu können, verlieren sie nur noch die letzte Zeit, die ihnen für Bildung ihres Geistes hätte übrigbleiben sollen. Wir wollen annehmen, daß der Fortschritt der Zivilisation soviel Leiden zu seinem Fußgestell bisher bedurfte. Da leuchtet plötzlich die Möglichkeit einer Änderung dieser traurigen Notwendigkeit aus einer Reihe der wunderbarsten Erfindungen - Erfindungen, welche die menschliche Arbeitskraft mehr als verhundertfachen. Der Nationalreichtum - das Nationalvermögen im Verhältnis zur Bevölkerung - wächst infolgedessen in steigender Progression. Ich frage: Kann es eine natürlichere Folgerung, eine gerechtere Forderung geben, als daß auch die Schöpfer dieses alten und neuen Reichtums von dieser Zunahme irgendwie Vorteil haben? - als daß sich entweder ihr Einkommen mit erhöht oder die Zeit ihrer Arbeit ermäßigt oder immer mehrere Mitglieder von ihnen in die Reihen jener Glücklichen übergehen, die vorzugsweise die Früchte der Arbeit zu brechen berechtigt sind? Aber die Staatswirtschaft oder besser die Volkswirtschaft hat nur das Gegenteil von dem allen zustande zu bringen vermocht. Während der Nationalreichtum wächst, wächst auch die Verarmung jener Klassen, müssen Spezialgesetze sogar der Verlängerung der Arbeitszeit in den Weg treten und nimmt endlich die Zahl der arbeitenden Klassen in größerem Verhältnis zu als die der anderen. Aber nicht genug! Die hundertfach erhöhte Ar- |198| beitskraft, die schon fünf Sechsteilen der Nation keine Erleichterung zu gewähren vermochte, wird periodisch auch noch der Schrecken des letzten Sechsteils der Nation und damit der ganzen Gesellschaft.« »Welche Widersprüche also auf dem wirtschaftlichen Gebiete insbesondere! Und welche Widersprüche auf dem gesellschaftlichen Gebiete überhaupt! Der gesellschaftliche Reichtum nimmt zu, und die Begleiterin dieser Zunahme ist die Zunahme der Armut. - Die Schöpfungskraft der Produktivmittel wird gesteigert, und deren Einstellung ist davon die Folge. - Der gesellschaftliche Zustand verlangt die Erhebung der materiellen Lage der arbeitenden Klassen zu gleicherer Höhe mit ihrer politischen, und der wirtschaftliche Zustand antwortet mit deren tieferer Erniedrigung. - Die Gesellschaft bedarf des ungehinderten Aufschwungs des Reichtums, und die heutigen Leiter der Produktion müssen denselben hemmen, um nicht der Armut Vorschub zu leisten. - Nur eines ist in Harmonie! Der Verkehrtheit der Zustände entspricht die Verkehrtheit des herrschenden Teils der Gesellschaft, die Verkehrtheit, den Grund dieser Übel da zu suchen, wo er nicht liegt. Jener Egoismus, der sich nur zu oft in das Gewand der Moral hüllt, klagt als die Ursache des Pauperismus die Untugenden der Arbeiter an. Ihrer angeblichen Ungenügsamkeit und Unwirtschaftlichkeit bürdet er auf, was übermächtige Tatsachen an ihnen verbrechen, und wo selbst er seine Augen nicht vor ihrer Schuldlosigkeit verschließen kann, erhebt er die 'Notwendigkeit der Armut' zur Theorie. Ohne Unterlaß ruft er den Arbeitern nur ora er labora zu, macht ihnen Enthaltsamkeit und Sparsamkeit zur Pflicht und fügt höchstens die Rechtsverletzung von Zwangssparanstalten der Not der Arbeiter hinzu. Er sieht nicht, daß eine blinde Verkehrsgewdas Gebet zur Arbeit in einen Fluch über erzwungene Arbeitslosigkeit verwandelt, daß ... Sparsamkeit eine Unmöglichkeit oder eine Grausamkeit ist und daß endlich die Moral stets wirkungslos in dem Munde derer blieb, von denen der Dichter weiß, 'sie trinken heimlich Wein und predigen öffentlich Wasser'.«(1)

Konnten solche tapferen Worte an sich - dreißig Jahre nach Sismondi und Owen, zwanzig Jahre nach den Anklagen der englischen Sozialisten aus der Ricardoschule, endlich nach der Chartistenbewegung, nach der Junischlacht und, last not least, nach dem Erscheinen des Kommunistischen Manifests - keinen Anspruch auf bahnbrechende Bedeutung erheben, so kam es letzt um so mehr auf die wissenschaftliche Begründung dieser Anklagen an. Rodbertus gibt hier ein ganzes System, das auf die folgenden knappen Sätze zurückgeführt werden kann.

|199| Die geschichtlich erreichte Höhe der Produktivität der Arbeit zusammen mit den »Institutionen des positiven Rechts«, d.h. dem Privateigentum, haben dank den Gesetzen eines »sich selbst überlassenen Verkehrs« eine ganze Reihe verkehrter und unmoralischer Erscheinungen hervorgerufen. So

1. den Tauschwert, an Stelle des »normalen«, »konstituierten Werts« und dadurch das heutige Metallgeld an Stelle eines richtigen »seiner Idee entsprechenden« »Papierstreifen«geldes oder »Arbeitsgeldes« »Die erste (Wahrheit) ist, daß alle wirtschaftlichen Güter Arbeitsprodukt sind oder, wie man dieselbe auch wohl noch sonst auszudrücken pflegte, daß die Arbeit allein produktiv ist. Dieser Satz bedeutet aber weder schon, daß der Wert des Produkts immer der Kostenarbeit äqual ist, mit anderen Worten, daß die Arbeit heute schon einen Maßstab des Wertes abgeben könne.« Wahrheit ist vielmehr, »daß dies noch keine staatswirtschaftliche Tatsache, sondern nur erst staatswirtschaftliche Idee ist«.(2)

»Sollte der Wert nach der Arbeit, die das Produkt gekostet hat, konstituiert werden können, so läßt sich noch ein Geld vorstellen, das gleichsam aus den losgerissenen Blättern jenes allgemeinen Kontobuches, aus einer auf dem wohlfeilsten Stoff, auf Lumpen, geschriebenen Quittung bestehen würde, die jedermann über den von ihm produzierten Wert erhielte und die derselbe wieder als Anweisung auf ebensoviel Wert an dem zur Verteilung kommenden Nationalproduktteil realisierte ... Kann indessen der Wert aus irgendwelchen Gründen nicht oder noch nicht konstituiert werden, so muß das Geld denjenigen Wert, den es liquidieren soll, selbst schon als Gleichwert, als Pfand oder Bürgschaft mit sich herumschleppen, d.h. selbst schon aus einem wertvollen Gut, aus Gold oder Silber, bestehen.«(3) Sobald jedoch die kapitalistische Warenproduktion da ist, wird alles auf den Kopf gestellt: »Die Konstituierung des Wertes muß aufhören, weil er nur noch Tauschwert sein kann.«(4) Und »weil nicht der Wert konstituiert werden konnte, kann auch das Geld nicht bloß Geld sein, nicht vollständig seiner Idee entsprechen« (5). »Bei einer gerechten Vergeltung im Tausche (müßte) der Tauschwert der Produkte äqual sein der Arbeitsquantität, die sie gekostet haben, müßten in den Produkten immer gleiche Arbeitsquantitäten ausgetauscht werden.« Aber selbst vorausgesetzt, daß jedermann gerade die Gebrauchswerte produziert, die ein anderer braucht, »müßte, da es sich hier um menschliche Erkenntnis und |200| menschlichen Willen handelte, doch immer noch eine richtige Berechnung, Ausgleichung und Festsetzung der in den auszutauschenden Produkten enthaltenen Arbeitsquantitäten vorausgehen und ein Gesetz dieserhalb bestehen, dem sich die Tauschenden fügen.«(6)

Rodbertus betont bekanntlich mit Nachdruck seine Priorität vor Proudhon in der Entdeckung des »konstituierten Werts«, was ihm gern zugestanden werden mag. Wie sehr diese »Idee« nur ein Gespenst war, das schon eine geraume Zeit vor Rodbertus in England theoretisch fruktifiziert und praktisch begraben worden war, und wie sehr diese »Idee« eine utopische Verballhornung der Ricardoschen Wertlehre war, haben Marx in seinem »Elend der Philosophie« wie Engels in seiner Vorrede dazu erschöpfend dargetan. Es erübrigt sich deshalb, auf diese »Zukunftsmusik auf der Kindertrompete« hier weiter einzugehen.

2. Aus dem »Tauschverkehr« ergab sich die »Degradation« der Arbeit zur Ware und der Arbeitslohn nach dem » Kostenwert« statt einer festen Quote des Anteils am Produkt. Rodbertus leitet sein Lohngesetz mit einem kühnen historischen Sprung direkt aus der Sklaverei her, wobei er die spezifischen Charaktere, die die kapitalistische Warenproduktion der Ausbeutung aufdrückt, nur als täuschende Lüge ansieht und vom moralischen Standpunkt verdonnert, »Solange die Produzenten selbst noch Eigentum der Nichtproduzenten waren, solange Sklaverei bestand, war es ausschließlich der Privatvorteil der 'Herren', der einseitig die Größe jenes Teils (des Anteils der Arbeitenden - R. L.) bestimmte. Seit die Produzenten die volle persönliche Freiheit, aber noch nichts weiter erreicht haben, vereinbaren sich beide Teile über den Lohn im voraus. Der Lohn ist, wie es heute heißt, Gegenstand eines 'freien Vertrages', d.i. der Konkurrenz. Dadurch wird natürlich die Arbeit denselben Tauschwertgesetzen unterworfen, denen auch die Produkte unterliegen; sie erhält selbst Tauschwert; die Größe ihres Lohns hängt von den Wirkungen des Angebots und der Nachfrage ab.« Nachdem er so die Dinge auf den Kopf gestellt und den Tauschwert der Arbeitskraft aus der Konkurrenz abgeleitet hat, leitet er gleich darauf natürlich ihren Wert aus ihrem Tauschwert ab:

»Die Arbeit erhält unter der Herrschaft der Tauschwertgesetze gleich den Produkten eine Art 'Kostenwert' , der auf ihren Tauschwert, den Lohnbetrag, eine Anziehungskraft äußert.« Dies ist derjenige Lohnbetrag, der nötig ist, um sie »instand zu erhalten«, d.h. um ihr die Kraft zur eigenen Fortsetzung, wenn auch nur in ihrer Nachkommenschaft, zu gewähren, der sogenannte »notwendige Unterhalt«. Dies ist aber für Rodbertus wieder- |201| um nicht Feststellung objektiver ökonomischer Gesetze, sondern bloß Gegenstand sittlicher Entrüstung. Die Behauptung der klassischen Schule, »die Arbeit habe nicht mehr Wert, als sie Lohn bekomme«, nennt Rodbertus »zynisch« und nimmt sich vor, »die Reihe von Irrtümern« aufzudecken, die zu diesem »krassen und unmoralischen Schlusse« geführt haben.(7) »Eine ebenso entehrende Vorstellung als die war, welche den Arbeitslohn nach dem notwendigen Unterhoder wie eine Maschinenreparatur schätzen ließ, hat auch bei der zur Tauschware gewordenen Arbeit, diesem Prinzip aller Güter, von einem 'natürlichen Preise' oder von 'Kosten' wie bei dem Produkt derselben gesprochen und diesen natürlichen Preis, diese Kosten der Arbeit in den Güterbetrag gesetzt, der nötig sei, um die Arbeit immer wieder auf den Markt zu bringen.« Dieser Warencharakter und die entsprechende Wertbestimmung der Arbeitskraft sind indes nichts als boshafte Verirrung der Freihandelsschule, und statt wie die englischen Ricardoschüler auf den Widerspruch innerhalb der kapitalistischen Warenproduktion: zwischen der Wertbestimmung der Arbeit und der Wertbestimmung durch die Arbeit, hinzuweisen, zeiht Rodbertus als guter Preuße die kapitalistische Warenproduktion des Widerspruchs - mit dem geltenden Staatsrecht. »Welch ein törichter, unbeschreiblicher Widerspruch in der Auffassung derjenigen Nationalökonomen« ruft er, »welche die Arbeiter in ihrer rechtlichen Stellung über die Geschicke der Gesellschaft mitentscheiden und zugleich sie nationalökonomisch nur immer als Ware behandeln lassen wollen!« (8)

Es fragt sich nur noch, weshalb sich die Arbeiter eine so törichte und schreiende Ungerechtigkeit gefallen lassen - ein Einwurf, der zum Beispiel von Hermann gegen die Ricardosche Werttheorie erhoben wurde. Darauf antwortet Rodbertus: »Was hätten die Arbeiter tun sollen, wenn sie sich nach ihrer Freilassung jene Vorschrift nicht hätten gefallen lassen wollen? Stellen Sie sich deren Lage vor! Die Arbeiter sind nackt oder in Lumpen freigelassen worden, mit nichts als ihrer Arbeitskraft. Auch war mit der Aufhebung der Sklaverei oder der Leibeigenschaft die moralische oder rechtliche Verpflichtung des Herrn, sie zu füttern oder für ihre Notdurft zu sorgen, fortgefallen. Aber ihre Bedürfnisse waren geblieben; sie mußten leben. Wie sollten sie mit ihrer Arbeitskraft für dies Leben sorgen? Von dem in der Gesellschaft vorhandenen Kapital nehmen und damit ihren Unterhproduzieren? Aber das Kapital in der Gesellschaft gehörte schon anderen als ihnen, und die Vollstrecker des 'Rechts' hätten es |202| nicht gelitten.« Was blieb also den Arbeitern übrig? »Nur eine Alternative: entweder das Recht der Gesellschaft umstürzen oder unter den ungefähren früheren wirtschaftlichen Bedingungen, wenn auch in veränderter rechtlicher Stellung, zu ihren früheren Herren, den Grund- und Kapitalbesitzern, zurückzukehren und als Lohn zu empfangen, was sie früher als Futter bekommen hatten!« Zum Glück für die Menschheit und den preußischen Rechtsstaat waren die Arbeiter »so weise«, die Zivilisation »nicht aus ihrer Bahn zu werfen« und sich lieber heroisch den niederträchtigen Zumutungen ihrer »früheren Herren« zu fügen. So entstand das kapitalistische Lohnsystem und das Lohngesetz als »ungefähre Sklaverei«, als ein Produkt des Gewaltmißbrauchs der Kapitalisten und der Zwangslage sowie der sanften Fügsamkeit der Proletarier, wenn man den bahnbrechenden theoretischen Erklärungen desselben Rodbertus Glauben schenken soll, der von Marx bekanntlich theoretisch »geplündert« worden ist. In bezug auf diese Lohntheorie ist jedenfalls die »Priorität« Rodbertus' unbestritten, denn die englischen Sozialisten und andere soziale Kritiker hatten das Lohnsystem viel weniger roh und primitiv analysiert. Das Originelle dabei ist, daß Rodbertus den ganzen Aufwand an sittlicher Entrüstung über die Entstehung und die ökonomischen Gesetze des Lohnsystems nicht etwa dazu verbraucht, um als die Konsequenz daraus die Abschaffung des schauderhaften Unrechts, des »törichten und unbeschreiblichen Widerspruchs« zu fordern. Bewahre! Er beruhigt wiederholt die Mitmenschheit, daß sein Gebrüll wider die Ausbeutung nicht gar zu tragisch gemeint sei, er sei kein Löwe, sondern bloß Schnock der Schreiner.(9) Die ethische Theorie des Lohngesetzes ist nur nötig, um daraus den weiteren Schluß zu ziehen:

3. Aus der Bestimmung des Lohnes durch die »Tauschwertgesetze« ergibt sich nämlich, daß mit dem Fortschritt der Produktivität der Arbeit der Anteil der Arbeiter am Produkt immer kleiner wird. Hier sind wir an dem archimedischen Punkt des Rodbertusschen »Systems« angelangt. Die »fallende Lohnquote« ist die wichtigste »eigene« Idee, die er seit seiner ersten sozialen Schrift (wahrscheinlich 1839) bis zu seinem Tode wiederholt und die er als sein Eigentum »in Anspruch nimmt«. Zwar war diese »Idee« eine einfache Schlußfolgerung aus Ricardos Werttheorie, zwar ist sie implicite in der Lohnfondstheorie enthalten, die seit den Klassikern bis zum Erscheinen des Marxschen »Kapitals« die bürgerliche Nationalökonomie beherrschte. Trotzdem glaubt Rodbertus mit dieser »Entdek- |203| kung« eine Art Galilei in der Nationalökonomie geworden zu sein, und er zieht seine »fallende Lohnquote« zur Erklärung aller Übel und Widersprüche der kapitalistischen Wirtschaft heran. Aus der fallenden Lohnquote leitet er also vor allem den Pauperismus ab, der bei ihm neben Krisen »die soziale Frage« ausmacht. Und es wäre angezeigt, der geneigten Aufmerksamkeit der modernen Marxtöter die Tatsache zu empfehlen, daß es zwar nicht Marx, wohl aber der ihnen viel näher stehende Rodbertus gewesen ist, der eine regelrechte Verelendungstheorie, und zwar in der gröbsten Form, aufgestellt und sie im Unterschied von Marx nicht zur Begleiterscheinung, sondern zum Zentralpunkt der »sozialen Frage« gemacht hat. Siehe z.B. seine Beweisführung der absoluten Verelendung der Arbeiterklasse im »Ersten socialen Brief an von Kirchmann«. Sodann muß die »fallende Lohnquote« auch zur Erklärung der anderen grundlegenden Erscheinung der »sozialen Frage« herhalten: der Krisen, Hier tritt Rodbertus an das Problem des Gleichgewichts zwischen Konsumtion und Produktion heran und berührt den ganzen Komplex der damit verbundenen Streitfragen, die bereits zwischen Sismondi und der Ricardoschule ausgefochten wurden.

Die Kenntnis der Krisen war bei Rodbertus natürlich auf ein viel reicheres Tatsachenmaterial gestützt als bei Sismondi. In seinem »Ersten socialen Brief« gibt er bereits eine eingehende Schilderung der vier Krisen: 1818; 1819, 1825, 1837-1839 und 1847. Dank der längeren Beobachtung konnte Rodbertus zum Teil einen tieferen Einblick in das Wesen der Krisen gewinnen, als dies seinen Vorläufern möglich war. So formuliert er bereits 1850 die Periodizität der Krisen, und zwar ihre Wiederkehr mit immer kürzeren Intervallen, dafür aber in immer zunehmender Schärfe: »Von Mal zu Mal, im Verhältnis der Zunahme des Reichtums hat sich die Furchtbarkeit dieser Krisen gesteigert, sind die Opfer, die sie verschlingen, größer geworden, Die Krisis von 1818/19, so sehr sie schon den Schrecken des Handels und die Bedenken der Wissenschaft erregte, war verhältnismäßig unbedeutend gegen die von 1825/26. Die letztere schlug dem Kapitalvermögen Englands solche Wunden, daß die berühmtesten Staatswirte die vollständige Ausheilung derselben bezweifelten, sie ward dennoch von der Krisis von 1836/37 übertroffen. Die Krisen von 1839/40 und 1846/47 richteten noch wieder stärkere Verheerungen an als die vorausgehenden.« »Indessen nach der bisherigen Erfahrung kehren die- |204| selben in immer kürzeren Intervallen wieder. Von der ersten bis zur dritten Krisis verflossen 18 Jahre, von der zweiten bis zur vierten 14 Jahre, von der dritten bis zur fünften 12 Jahre. Schon mehren sich die Anzeichen eines nahe bevorstehenden neuen Unglücks, obwohl unzweifelhaft das Jahr 1848 dessen Ausbruch aufgehalten hat.«(10) Weiter macht Rodbertus die Beobachtung, daß der regelmäßige Vorläufer der Krisen ein außerordentlicher Aufschwung der Produktion, große technische Fortschritte der Industrie zu sein pflegen: »... jede einzelne derselben (der Krisen) ist auf eine hervorstechende Periode industrieller Blüte gefolgt.«(11) Er schildert an der Hand der Geschichte der Krisen, daß »dieselben stets nur nach einer bedeutenden Steigerung der Produktivität eintreten« (12). Rodbertus bekämpft die vulgäre Ansicht, die Krisen nur zu Geld- und Kreditstörungen machen will, und kritisiert die ganze verfehlte Peelsche Banknotengesetzgebung, ausführlich begründet er seine Ansicht in dem Aufsatz »Die Handelskrisen und die Hypothekennoth« aus dem Jahre 1858, wo er u.a. sagt: »Man täuscht sich daher auch, wenn man die Handelskrisen nur als Geld-, Börsen- oder Kreditkrisen auffaßt. So erscheinen sie nur äußerlich bei ihrem ersten Auftreten.«(13) Bemerkenswert ist auch der scharfe Blick Rodbertus' für die Bedeutung des auswärtigen Handels im Zusammenhang mit dem Problem der Krisen. Genau wie Sismondi konstatiert er die Notwendigkeit der Expansion für die kapitalistische Produktion, zugleich aber die Tatsache, daß damit nur die Dimensionen der periodischen Krisen wachsen müssen. »Der auswärtige Handel«, sagt er in »Zur Beleuchtung der Socialen Frage«, 2. Teil, 1. Heft, »verhält sich zu den Handelsstockungen nur wie die Wohltätigkeit zum Pauperismus - sie steigern sich zuletzt nur an demselben.«(14) Und in dem zitierten Aufsatz »Handelskrisen und Hypothekennoth«: »Was man zur Verhütung künftiger Ausbrüche 'der Krisen' anwenden kann, ist nur das zweischneidige Mittel einer Erweiterung des auswärtigen Marktes. Das heftige Streben nach solcher Erweiterung ist großenteils nichts als ein aus dem leidenden Organ entspringender krankhafter Reiz. Weil auf dem inneren |205| Markt der eine Faktor, die Produktivität, ewig steigt und der andere, die Kaufkraft, für den größten Teil der Nation sich ewig gleichbleibt, muß der Handel eine gleiche Unbegrenztheit des letzteren auf auswärtigen Märkten zu supplieren suchen. Was diesen Reiz stillt, verzögert wenigstens den neuen Ausbruch des Übels. Jeder neue auswärtige Markt gleicht daher einer Vertagung der sozialen Frage. In derselben Weise wirken Kolonisationen in unangebauten Ländern. Europa erzieht sich einen Markt, wo sonst keiner war. Aber dieses Mittel kajoliert doch im Grunde nur das Übel. Wenn die neuen Märkte ausgefüllt sind - so ist die Frage nur wieder zu ihrem alten Ausgangspunkt zurückgekehrt, dem begrenzten Faktor der Kaufkraft gegenüber dem unbegrenzten Faktor der Produktivität, und der neue Ausbruch ward nur von dem kleineren Markte ferngehalten, um ihn auf dem größeren in noch weiteren Dimensionen und noch heftigeren Zufällen wieder auftreten zu lassen. Und da doch die Erde begrenzt ist und deshalb die Gewinnung neuer Märkte einmal aufhören muß, muß auch die bloße Vertagung der Frage einmal aufhören. Sie muß dereinst definitiv gelöst werden.«(15) |206| Er hat auch die Anarchie der kapitalistischen Privatproduktion als krisenbildenden Faktor ins Auge gefaßt, allein nur unter anderen Faktoren, nicht als die eigentliche Ursache der Krisen überhaupt, sondern als Quelle einer bestimmten Abart Krisen. So sagt er über den Ausbruch der »Krise« im v. Kirchmannschen »Ort«: »Ich will nun nicht behaupten, daß diese Art der Absatzstockung nicht auch in der Wirklichkeit vorkäme. Der Markt ist heute groß, der Bedürfnisse und Produktionszweige sind viele, die Produktivität ist bedeutend, die Anzeichen des Begehrs sind dunkel und trügerisch, die Unternehmer ohne gegenseitige Kenntnis des Umfangs ihrer Produktion - es kann also auch leicht geschehen, daß diese sich in dem Maße eines bestimmten Warenbedarfs täuschen und den Markt damit überfüllen.« Rodbertus spricht es auch rundweg heraus, daß diesen Krisen nur eine planmäßige Organisation der Wirtschaft, eine »vollständige Umkehrung« der heutigen Eigentumsverhältnisse. die Vereinigung aller Produktionsmittel »in der Hand einer einzigen gesellschaftlichen Behörde« |207| abhelfen könnte. Er beeilt sich freilich auch hier gleich zur Beruhigung der Gemüter hinzuzufügen, daß er es dahingestellt sein lasse, ob ein solcher Zustand möglich sei, »aber jedenfalls wäre in ihm die einzige Möglichkeit gegeben, diese Art von Absatzstockungen zu verhindern«. Er unterstreicht also hier, daß er die Anarchie der heutigen Produktionsweise nur für eine bestimmte partielle Erscheinungsform der Krisen verantwortlich macht.

Rodbertus verwirft mit Hohn den Say-Ricardoschen Satz von dem natürlichen Gleichgewicht zwischen Konsumtion und Produktion und legt ganz wie Sismondi den Nachdruck auf die Kaufkraft der Gesellschaft, die er wieder wie Sismondi von der Einkommensverteilung abhängig macht. Trotzdem akzeptiert er die Sismondische Krisentheorie, namentlich in ihren Schlußfolgerungen, durchaus nicht und stellt sich zu ihr in scharfen Gegensatz. Wenn Sismondi nämlich in der schrankenlosen Ausdehnung der Produktion ohne Rücksicht auf die Einkommensschranken die Quelle des Übels sah, und dementsprechend die Eindämmung der Produktion predigte, tritt Rodbertus umgekehrt für die kräftigste und schrankenlose Ausdehnung der Produktion, des Reichtums, der Produktivkräfte ein. Die Gesellschaft, meint er, bedürfe einer ungehinderten Zunahme ihres Reichtums. Wer den Reichtum der Gesellschaft verwerfe, verwerfe mit ihrer Macht ihren Fortschritt, mit diesem ihre Tugend, wer seiner Zunahme Hindernisse in den Weg werfe, werfe sie ihrem Fortschritte überhaupt in den Weg. Jede Zunahme des Wissens, Wollens und Könnens in der Gesellschaft sei an eine Zunahme des Reichtums gebunden.(16) Von diesem Standpunkt aus war Rodbertus ein warmer Befürworter des Systems der Notenbanken, die er als unumgänglich Grundlage zur raschen und unbeschränkten Expansion der Gründertätigkeit betrachtete. Sowohl sein Aufsatz über die Hypothekennot aus dem Jahre 1858 wie schon die 1845 erschienene Abhandlung über die preußische Geldkrisis sind dieser Beweisführung gewidmet. Er wendet sich aber auch direkt polemisierend gegen die Mahnungen im Geiste Sismondis, wobei er auch hier die Sache zunächst in seiner ethisch-utopischen Weise anfaßt. »Die Unternehmer«, deklamiert er, »sind im wesentlichen nichts als volkswirtschaftliche Beamte, welche, wenn sie die nationalen Produktionsmittel, die ihnen die Institution des Eigentums unauflöslich anvertraut hat, mit der Anspannung aller Kräfte arbeiten lassen, nur ihre Schuldigkeit tun. Denn das |208| Kapital ist, wiederhole ich, nur zur Produktion da.« Weiter aber sachlich: »Oder sollen sie (die Unternehmer) gar die akuten Leidenszufälle chronisch machen, indem sie von Anbeginn an und fortwährend mir geringeren Kräften, als sie in ihren Mitteln wirklich besitzen, arbeiten und auf diese Weise einen niedrigeren Grad der Heftigkeit mit einer unausgesetzten Dauer des Übels erkaufen? Selbst wenn man so töricht wäre, ihnen solchen Rat zu geben, sie würden ihn nicht zu befolgen vermögen. Woran sollten jene Weltproduzenten diese schon krankhafte Grenze des Marktes erkennen? Sie alle produzieren, ohne voneinander zu wissen, an den verschiedensten Ecken und Enden der Erde für einen Hunderte von Meilen entfernten Markt mit so riesigen Kräften, daß die Produktion eines Monats jene Grenze zu überschreiten genügt - wie ist es denkbar, daß eine so zerstückte und doch so mächtige Produktion die Übersicht jenes Genüges rechtzeitig zu gewinnen vermöchte? Wo sind nur die Anstalten, z.B. auf dem laufenden gehaltene statistische Büros, um ihnen dabei behilflich zu sein? Aber was schlimmer ist, der einzige Fühler des Marktes ist der Preis, sein Steigen und Fallen. Aber er ist nicht wie ein Barometer, das die Temperatur des Marktes vorhersagt, sondern wie ein Thermometer, das sie nur mißt. Fällt der Preis, so ist schon die Grenze überschritten und das Übel bereits da.«(17) Diese zweifellos gegen Sismondi gerichtete Polemik zeigt, daß zwischen beiden in der Auffassung der Krisen sehr wesentliche Unterschiede lagen; wenn deshalb Engels im »Anti-Dühring« sagt, die Erklärung der Krisen aus Unterkonsumtion rühre von Sismondi her und von diesem habe sie Rodbertus entlehnt, so ist das, streng genommen, nicht genau. Gemeinsam ist Rodbertus wie Sismondi nur die Opposition gegen die klassische Schule sowie die Erklärung der Krisen im allgemeinen aus der Verteilung des Einkommens. Aber auch hier folgt Rodbertus seiner eigenen Privatschrulle. Nicht die Niedrigkeit des Einkommens der Arbeitermasse bewirke die Überproduktionen und auch nicht die beschränkte Konsumtionsfähigkeit der Kapitalisten, wie bei Sismondi, sondern lediglich die Tatsache, daß das Einkommen der Arbeiter mit dem Fortschritt der Produktivität einen immer geringeren Teil des Produktenwertes darstellt. Rodbertus weist seinem Widerpart ausdrücklich nach, daß nicht aus der Geringfügigkeit der Anteile der arbeitenden Klassen Absatzstockungen entspringen: »Stellen Sie sich«, belehrt er v. Kirchmann, »diese Anteile so klein vor, daß die Berechtigten nur das nackte Leben dabei haben, |209| halten Sie die Anteile aber nur in der Quote, die sie am Nationalprodukt einnehmen, fest, und lassen Sie dann die Produktivität zunehmen, so haben Sie auch das feste Wertgefäß, das einen immer größeren Inhaufzunehmen imstande ist, so haben Sie den immer zunehmenden Wohlstand auch der arbeitenden Klassen ... Umgekehrt stellen Sie sich die Anteile der arbeitenden Klassen so groß vor, wie Sie wollen, lassen Sie sie aber unter der Zunahme der Produktivität zu einer immer kleineren Quote des Nationalprodukts herabsinken, so werden diese Anteile zwar bis dahin, daß sie auf ihre heutige Geringfügigkeit zurückgebracht sind, immer noch vor übergroßer Entbehrung schützen, denn ihr Produktinhwird noch immer bedeutend größer als heute sein, aber sie werden dennoch sofort, als sie zu sinken beginnen, jene zu unsern Handelskrisen sich steigernde Unbefriedigung nach sich ziehen, die ohne Verschulden der Kapitalisten ja nur deshalb eintritt, weil die Kapitalisten den Umfang ihrer Produktion nach der gegebenen Größe der Anteile einrichteten.«(18)

Also die »fallende Lohnquote« ist die eigentliche Ursache der Krisen und das einzig wirksame Mittel gegen sie - die gesetzliche Bestimmung, wonach der Anteil der Arbeiter am Nationalprodukt eine feste und unabänderliche Quote darstellt. Man muß sich in diesen bizarren Einfall gut hineindenken, um seinen ökonomischen Inhnach Gebühr zu würdigen.


Fußnoten von Rosa Luxemburg

(1) Carl Rodbertus-Jagetzow: Schriften, Berlin 1899, Bd. III, S. 172-174 u. 184. <=

(2) l.c., Bd. II, S. 104/105. <=

(3) l.c., Bd. I, S. 99. <=

(4) l.c., Bd. I, S. 175. <=

(5) l.c., Bd. I, S. 176. <=

(6) l.c., Bd. II, S. 65. <=

(7) l.c., Bd. I, S. 182-184. <=

(8) l.c., Bd. II, S. 72. <=

(9) Vgl. l.c., Bd. IV, S. 225 <=

(10) l.c., Bd. III, S. 110 u. 111. <=

(11) l.c., Bd. III, S. 108. <=

(12) l.c., Bd. I, S. 62. <=

(13) l.c., Bd. IV, S. 226. <=

(14) l.c., Bd. III, S. 186. <=

(15) l.c., Bd. IV, S. 233. Es ist in diesem Zusammenhang interessant zu sehen wie Rodbertus unbeschadet seiner ethischen Polterei über das Los der unglücklichen arbeitenden Klassen in der Praxis als ein äußerst nüchterner und realistisch denkender Prophet der kapitalistischen Kolonialpolitik im Sinne und Geiste der heutigen »Alldeutschen« auftrat. »Von hier« schreibt er in der Fußnote zum angeführten Passus, »mag man einen raschen Blick auf die Wichtigkeit der Erschließung Asiens, namentlich Chinas und Japans, dieser reichsten Märkte der Welt, sowie der Erhaltung Indiens unter englischer Herrschaft werfen. Die soziale Frage gewinnt dadurch Zeit (der donnernde Rächer der Ausgebeuteten verrät hier naiv den Nutznießern der Ausbeutung das Mittel, wie sie ihren »törichten und verbrecherischen Irrtum«, ihre »unmoralische« Auffassung, ihre »schreiende Ungerechtigkeit« möglichst lange koservieren können! - R. L.) denn, (diese philosophische Resignation ist unvergleichlich - R. L.) der Gegenwart gebricht es zu ihrer Lösung an Uneigennützigkeit und sittlichem Ernst, ebensosehr als an Einsicht. Ein volkswirtschaftlicher Vorteil ist nun allerdings kein genügender Rechtstitel zu gewaltsamem Einschreiten. Allein andererseits ist auch die strikte Anwendung des modernen Natur- und Völkerrechts auf alle Nationen der Erde, sie mögen einer Kulturstufe angehören, welcher sie wollen, unhaltbar. (Wer denkt da nicht an dir Worte Dorinens im Molièreschen »Tartuffe«: »Le ciel défend, de vraie, certains contentements, mais il y avec lui des accomodements.« - R. L.) Unser Völkerrecht ist ein Produkt der christlich-ethischen Kultur und kann, weil alles Recht auf Gegenseitigkeit beruht, deshalb auch nur ein Maß für die Beziehungen zu Nationen sein, die dieser selben Kultur angehören. Seine Anwendung über diese Grenze hinaus ist natur- und völkerrechtliche Sentimentalität, von der die indischen Greuel uns geheilt haben werden. Vielmehr sollte das christliche Europa etwas von dem Gefühl in sich aufnehmen, das die Griechen und Römer bewog, alle anderen Völker der Erde als Barbaren zu betrachten. Dann würde auch in den neueren europäischen Nationen wieder jener weltgeschichtliche Trieb wach werden, der die Alten drängte, ihre heimische Kultur über den Orbis terrarum zu verbreiten. Sie würden in gemeinsamer Aktion Asien der Geschichte zurückerobern. Und an diese Gemeinsamkeit würden sich die größten sozialen Fortschritte knüpfen, die feste Begründung des europäischen Friedens, die Reduktion der Armeen, eine Kolonisation Asiens im altrömischen Stil, mit andern Worten, eine wahrhafte Solidarität der Interessen auf allen gesellschaftlichen Lebensgebieten.« Der Prophet der Ausgebeuteten und Unterdrückten wird hier bei den Visionen der kapitalistischen Kolonialexpansion beinah zum Dichter. Und dieser poetische Schwung will um so mehr gewürdigt werden, als die »christlich-ethische Kultur« sich just damals mit solchen Ruhmestaten bedeckte wie den Opiumkriegen gegen China und den »indischen Greul« - nämlich den Greul der Engländer bei der blutigen Unterdrückung des Sepoyaufstandes. In seinem »Zweiten socialen Brief«, im Jahre 1850, meinte Rodbertus zwar, wenn der Gesellschaft »die sittliche Kraft« zur Lösung der sozialen Frage, d.h. zur Änderung der Verteilung des Reichtums fehlen sollte, würde die Geschichte »wieder die Peitsche der Revolution über sie schwingen müssen«. (l.c., Bd. II, S. 83.) Acht Jahre später zieht er als braver Preuße vor, die Peitsche der christlich-ethischen Kolonialpolitik über die Eingeborenen der Kolonialländer zu schwingen. Es ist auch nur folgerichtig, daß der »eigentliche Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus in Deutschland« auch ein warmer Anhänger des Militarismus und seine Phrase von der »Reduktion der Armeen« nur als eine Licentia poetica im Redeschwall zu nehmen war. In seinem »Zur Beleuchtung der Socialen Frage«, 2. Teil, 1. Heft, führt er aus, daß »die ganze nationale Steuerlast immerfort nach unten gravitiert, bald in Steigerung der Preise der Lohngüter, bald in dem Druck auf den Geldarbeitslohn«, wobei die allgemeine Militärpflicht, »unter den Gesichtspunkt einer Staatslast gebracht, bei den arbeitenden Klassen nicht einmal einer Steuer, sondern gleich einer mehrjährigen Konfiskation des ganzen Einkommens gleichkommt.« Dem fügt er schleunig hinzu: »Um keinem Mißverständnis ausgesetzt zu sein, bemerke ich, daß ich ein entschiedener Anhänger unserer heutigen Militärverfassung (also der preußischen Militärverfassung der Konterevolution - R. L.) bin, so drückend sie auch für die arbeitenden Klassen sein mag und so hoch die finanziellen Opfer scheinbar sind, die den besitzenden Klassen dafür abverlangt werden.« (l.c., Bd. III, S. 34) Nein, Schnock ist entschieden kein Löwe! <=

(16) Siehe l.c., Bd. III, S. 182. <=

(17) l.c., Bd. IV, S. 231. <=

(18) l.c., Bd. I, S. 59. <=


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