Karl Liebknecht: Begründung der Ablehnung der Kriegskredite von Karl Liebknecht am 2. Dezember 1914

deutsch-französische Friedenskundgebung


Karl Liebknecht


Der Hauptfeind


[ français ]

Zu Liebknechts Sonderabstimmung

Begründung der Ablehnung der Kriegskredite

Abstimmungsbegründung

(Dem Reichstagspräsidenten gemäß Paragraph 59 der Geschäftsordnung überreicht)

Meine Abstimmung zur heutigen Vorlage begründe ich wie folgt: Dieser Krieg, den keines der beteiligten Völker selbst gewollt hat, ist nicht für die Wohlfahrt des deutschen oder eines anderen Volkes entbrannt. Es handelt sich um einen imperialistischen Krieg, einen Krieg um die kapitalistische Beherrschung des Weltmarktes, um die politische Beherrschung wichtiger Siedlungsgebiete für das Industrie- und Bankkapital. Es handelt sich vom Gesichtspunkt des Wettrüstens um einen von der deutschen und österreichischen Kriegspartei gemeinsam im Dunkel des Halbabsolutismus und der Geheimdiplomatie hervorgerufenen Präventivkrieg. Es handelt sich auch um ein bonapartistisches Unternehmen zur Demoralisation und Zertrümmerung der anschwellenden Arbeiterbewegung. Das haben die verflossenen Monate trotz einer rücksichtslosen Verwirrungsregie mit steigender Deutlichkeit gelehrt.

Die deutsche Parole "Gegen den Zarismus" diente - ähnlich der jetzigen englischen und französischen Parole "Gegen den Militarismus" - dem Zweck, die edelsten Instinkte, die revolutionären Überlieferungen und Hoffnungen des Volkes für den Völkerhaß zu mobilisieren. Deutschland, der Mitschuldige des Zarismus, das Muster politischer Rückständigkeit bis zum heutigen Tage, hat keinen Beruf zum Völkerbefreier. Die Befreiung des russischen wie des deutschen Volkes muß deren eigenes Werk sein.

Der Krieg ist kein deutscher Verteidigungskrieg. Sein geschichtlicher Charakter und bisheriger Verlauf verbieten, einer kapitalistischen Regierung zu vertrauen, daß der Zweck, für den sie die Kredite fordert, die Verteidigung des Vaterlandes ist.

Ein schleuniger, für keinen Teil demütigender Friede, ein Friede ohne Eroberungen, ist zu fordern; alle Bemühungen dafür sind zu begrüßen. Nur die gleichzeitige dauernde Stärkung der auf einen solchen Frieden gerichteten Strömungen in allen kriegführenden Staaten kann dem blutigen Gemetzel vor der völligen Erschöpfung aller beteiligten Völker Einhgebieten. Nur ein auf dem Boden der internationalen Solidarität der Arbeiterklasse und der Freiheit aller Völker erwachsener Friede kann ein gesicherter sein. So gilt es für das Proletariat aller Länder, auch heute im Kriege gemeinsame sozialistische Arbeit für den Frieden zu leisten.

Die Notstandskredite bewillige ich in der verlangten Höhe, die mir bei weitem nicht genügt. Nicht minder stimme ich allem zu, was das harte Los unserer Brüder im Felde, der Verwundeten und Kranken, denen mein unbegrenztes Mitleid gehört, irgend lindern kann; auch hier geht mir keine Forderung weit genug. Unter Protest jedoch gegen den Krieg, seine Verantwortlichen und Regisseure, gegen die kapitalistische Politik, die ihn heraufbeschwor, gegen die kapitalistischen Ziele, die er verfolgt, gegen die Annexionspläne, gegen den Bruch der belgischen und luxemburgischen Neutralität, gegen die Militärdiktatur, gegen die soziale und politische Pflichtvergessenheit, deren sich die Regierung und die herrschenden Klassen auch heute noch schuldig machen, lehne ich die geforderten Kriegskredite ab.

Berlin, den 2. Dezember 1914 Karl Liebknecht


Der Präsident hat die Aufnahme dieser Begründung in den stenographischen Bericht abgelehnt, weil in ihr Äußerungen enthalten seien, "die, wenn sie im Hause gemacht wären, Ordnungsrufe nach sich gezogen haben würden".
An den Vorstand der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion

Berlin

Berlin, den 3. Dezember 1914

Werte Genossen!

Bei der gestrigen Abstimmung im Reichstage befand ich mich in einer Zwangslage. Die Ablehnung der Vorlage war nach meiner Überzeugung geboten durch das Parteiprogramm und die Beschlüsse der internationalen Kongresse. Ich bin verpflichtet, im Sinne des Parteiprogramms und dieser Beschlüsse zu wirken. Ein Fernbleiben von der Sitzung und der Abstimmung erschien mir unmöglich bei der außerordentlichen Wichtigkeit der Vorlage; ich mußte mein Mandat als Abgeordneter durch Stellungnahme zu ihr ausüben. Jedes andere Verhalten, das meine von der Fraktion abweichende Auffassung zum Ausdruck brachte, war mir genauso verwehrt wie ein ablehnendes Votum. Es war mir kein Weg gelassen, um die Verantwortung für den verhängnisvollen Beschluß der Fraktion abzulehnen, eine Verantwortung, die ich nach meiner sorgfältigen und immer wiederholten Prüfung unter keinen Umständen tragen kann.

Ich habe mich bemüht, von der Fraktion die Erlaubnis zu einer abweichenden Abstimmung zu erwirken. Die Fraktion hat sie versagt, obwohl der jetzige Fall sowohl seiner Bedeutung wie seinen inneren Schwierigkeiten nach ein ganz einziger war. Sie war nicht durch den Parteitagsbeschluß von 1876 gebunden. Dieser Beschluß will und kann die Fraktion nicht ermächtigen, durch das Mittel der Disziplin Verstöße gegen Parteibeschlüsse zu erzwingen. Der Fraktionsbeschluß aber war ein schwerer Verstoß gegen grundlegende Parteibeschlüsse.

In diesem Gewissenskonflikt mußte ich die Pflicht der Fraktionsdisziplin, so hoch ich sie schätze, der Pflicht zur Vertretung des Parteiprogramms unterordnen. Ich hoffe dafür bei den Genossen in und außerhalb der Fraktion Verständnis zu finden.

Dem Reichstagspräsidenten habe ich die abschriftlich beigefügte Begründung meiner Abstimmung gemäß § 59 der Geschäftsordnung überreicht. Wie ich soeben erfahre, lehnt er ihre Aufnahme in den stenographischen Bericht ab. Ich bemühe mich, wenigstens einen Vermerk in den stenographischen Bericht zu bringen, der auf diese Tatsache hinweist.

Mit Parteigruß

Karl Liebknecht


Erklärung (Mit 6 gegen 1 Stimme angenommen)

Der Vorstand der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion stellt fest, daß der Genosse Karl Liebknecht entgegen dem alten Brauch der Fraktion, der durch einen ausdrücklichen Beschluß für den vorliegenden Fall erneuert wurde, gegen die Kriegskreditvorlage gestimmt hat. Der Vorstand bedauert diesen Bruch der Disziplin, der die Fraktion noch beschäftigen wird, aufs tiefste.

Der Vorstand der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion (Veröffentlicht im "Vorwärts" vom 3. Dezember 1914)


Zur Begründung eines Minderheitsvotums gegen die Kriegskredite

November 1914

Begleitschreiben an die Fraktionsminderheit

Berlin, den 23. November 1914

Werter Genosse!

Ich erlaube mir, Ihnen zu übersenden

1. den Entwurf einer Erklärung, wie ich sie für den 2. Dezember vorschlagen möchte,

2. Thesen, die die Begründung und nähere Ausführung dieser Resolution enthalten.

Es handelt sich selbstverständlich um eine rein private Sache. Vielleicht können diese Vorarbeiten unsere Verständigung erleichtern.

Wenn, wie zu erwarten, die Fraktionsmehrheit beschließt, für die Kredite zu stimmen, so bin ich mit aller Entschiedenheit für ein Minoritätsvotum etwa im Sinne der hier beiliegenden Erklärung. Ich hoffe, daß Sie der gleichen Ansicht sind.

Mit freundlichem Gruß Ihr [K. Liebknecht]


Thesen

Einen Wesenszug des Imperialismus, dessen Hauptträger auf dem europäischen Festland Deutschland ist, bildet das wirtschaftliche und politische Expansionsstreben, das immer stärkere politische Spannungen erzeugt.

Mächtige Unternehmungen der deutschen Schwerindustrie blicken seit Jahren verlangend nach dem an Bodenschätzen und industriellen Anlagen reichen Belgien und Französisch-Lothringen. Bereits heute besitzen sie dort wertvolle Anlagen, deren Ausnützung und Ausbau ihnen durch Einverleibung dieser Gebiete in Deutschland ungemein erleichtert und gegen die französischen Abschließungstendenzen sichergestellt würde.

Kleinasien und Syrien, Brennpunkte der internationalen Kapitalskonkurrenz, gehören zu den bedeutsamsten Siedlungsgebieten für das stürmisch vordringende deutsche Finanzkapital. Hier liegt das Zentrum des imperialistischen Gegensatzes zwischen Deutschland und Rußland, hinter dem der englisch-russische Widerstreit zeitweilig zurücktritt.

Als Brücke zu den asiatischen Ausbeutungsgefilden hat der Balkan für einen sehr einflußreichen Teil des deutschen Kapitals ein eigenes Interesse gewonnen. Auch die zunehmende Verknüpfung zwischen deutschem und österreichischem Kapital und die militärisch-politischen Gesichtspunkte des deutsch-österreichischen Zweibunds haben der Stellung Österreichs auf dem Balkan für die offizielle deutsche Politik beträchtliche Bedeutung verliehen.

Gewaltig ist die Begierde des deutschen Kapitals nach kolonialer Ausdehnung gewachsen, wobei der afrikanische Besitz Englands und Frankreichs im Vordergrund steht.

Die unter dem Vortritt Deutschlands vollzogene militaristische Entwicklung Europas, in der die Mächte einander in zunehmendem Tempo zu überflügeln suchten, hatte einen Grad erreicht, der einer Steigerung nicht mehr fähig schien. Zur Durchsetzung der immer gewaltigeren Rüstungsvorlagen wurde der Völkerhaß systematisch genährt. Die ins ungemessene gewachsenen Heereslasten mußten auch in Deutschland schließlich teilweise den besitzenden Klassen auferlegt werden, die dadurch in wachsende Unruhe gerieten. Jede Anregung zur Verständigung über eine internationale Rüstungseinschränkung wurde vor allem von dem vorantreibenden deutschen Imperialismus abgelehnt.

Eine verhängnisvolle Rolle bei der Zuspitzung der Konflikte spielte das international versippte Rüstungskapital, das im Zeichen des bewaffneten Friedens glänzend gediehen war, das bei einem Krieg ohne Rücksicht auf den Ausgang goldene Ernte erwarten durfte und dessen deutsche Hauptunternehmungen zudem in Belgien und Französisch-Lothringen lebhaft interessiert sind.

Der Militarismus erzeugte aus sich selbst noch andere mächtige Kriegsinteressenten: eine Offizierskamarilla, die besonders in Deutschland ungeniert auf einen kriegerischen Konflikt hinarbeitete und selbstherrlich ihre Nebenregierung etablierte.

Die innerpolitischen Zustände hatten infolge der Zuspitzung der nationalen und vor allem der Klassengegensätze für die herrschenden Klassen ein immer bedenklicheres Gesicht angenommen. In Deutschland entlockte ihnen das rapide Wachstum der Sozialdemokratie, die ihren politischen und wirtschaftlichen Besitzstand bedrohte, bereits vor einem halben Jahrzehnt den Ruf nach einem Kriege als dem einzigen Mittel zur Vernichtung der Arbeiterbewegung.

Die kapitalistischen und militaristischen Kriegsinteressenten, deren Ziele sich freilich keineswegs decken, bildeten in Deutschland eine von Jahr zu Jahr mehr hervortretende Kriegspartei unter dem Protektorat des deutschen Kronprinzen, der sie wiederholt in unverhohlener Fronde gegen die offiziellen Vertreter des Deutschen Reichs demonstrativ anfeuerte.

Diesen Treibereien, für die es auch in den übrigen Staaten vielfach Gegenstücke gibt, wurde in Deutschland Vorschub geleistet durch halbabsolutistische Verfassungszustände, die die Entscheidung über Krieg und Frieden dem Einfluß der breiten Masse entzogen und in der auswärtigen Politik ein durch keine Kontrolle des Volkes begrenztes, um so mehr aber den Einwirkungen der herrschenden Klassen unterworfenes persönliches Regiment ermöglichten.

Die Geheimdiplomatie, die Politik der Geheimverträge bedrohte seit langem den Frieden.

So zweifellos auch breite Kreise der nichtproletarischen Bevölkerung ein starkes und steigendes Interesse an der Aufrechterhaltung des Friedens besaßen, ihr Haß gegen das Proletariat, ihre Angst vor ihm lähmte ihren Widerstand gegen das persönliche Regiment und warf sie stets aufs neue dem Militarismus in die Arme, in dem sie ihren zuverlässigen Schutzherrn im Klassenkampf gegen die anschwellende revolutionäre Flut anbeteten.

Die schwächlichen Verständigungsversuche der kapitalistischen Regierungen, die zeitweilig einen friedlichen Ausgleich wichtiger kapitalistischer Gegensätze in den Bereich der Möglichkeit zu rücken schienen, erlitten kläglich Schiffbruch.

Alle jene Gefahren hat die Sozialdemokratie seit jeher erkannt, gekennzeichnet und in internationaler Zusammenarbeit bekämpft. Ihre Bemühungen vermochten den Ausbruch des Krieges nicht zu hindern.

Die Einzelheiten der Vorgeschichte des Krieges wird die Zukunft enthüllen. Die Grundzüge stehen schon heute fest. Wir haben unsere Auffassung darüber nicht vom 29. Juli bis zum 1. August 1914 umgestürzt.

Es handelt sich um einen imperialistischen Krieg reinsten Wassers, und zwar vor allem auf deutscher Seite, mit dem von mächtigsten Kreisen beharrlich verfolgten Ziel von Eroberungen großen Stils. Es handelt sich - vom Gesichtspunkt des Wettrüstens aus - bestenfalls um einen von der deutschen und österreichischen Kriegspartei gemeinsam hervorgerufenen Präventivkrieg, zu dem die Gelegenheit günstig erschien, als die große Wehrvorlage verabschiedet und ein technischer Vorsprung gewonnen war. Das Attentat von Sarajevo wurde als demagogischer Vorwand ausersehen. Das österreichische Ultimatum an Serbien vom 23. Juli war der Krieg. Alle späteren Friedensbemühungen waren nur Dekoration und diplomatische Winkelzüge, gleichviel, ob sie von einzelnen Mitwirkenden ernst gemeint waren oder nicht.

Der Krieg wurde in Deutschland in einer Weise inszeniert, die die schärfste Verurteilung herausfordert. Eine überaus raffinierte Regie setzte ein, die unter rücksichtsloser Ausnutzung des amtlichen Apparates die öffentliche Meinung beeinflußte, verwirrte, aufpeitschte. Das deutsche Volk wurde durch ein sentimentales Friedenskaiserspiel düpiert. Der Belagerungszustand folgte. Die verfassungsmäßigen Grundrechte wurden aufgehoben, jede Kritik gewaltsam und unnachsichtlich unterdrückt. Russische Invasionen und französische Angriffe wurden vorgespielt. Den unsinnigsten Gerüchten ließ die Regierung freien Lauf. Halbamtlich und amtlich wurde eine schnöde Ausländerhetze betrieben und eine wilde Spionenfurcht entfesselt, die Mißhandlungen harmloser Menschen, wirklicher oder vermeintlicher Ausländer veranlaßten. Die Militärgewscheute nicht zurück vor der Verhaftung eines Reichstagsabgeordneten - des Dänen Hansen. Unter dem Schrecken des hereingebrochenen Weltkrieges und dem Druck der Militärdiktatur wurde der Anschein einer vollständigen Einmütigkeit des deutschen Volkes vorgegaukelt.

Die Verletzung der luxemburgischen Neutralität wurde verschleiert; die diplomatische Vorbereitung des Überfalls auf das neutrale Belgien - einschließlich des Ultimatums - wurde dem deutschen Volk und dem Reichstag über den 4. August hinaus verschwiegen. Unter solchen Umständen kamen die Beschlüsse des Reichstags vom 4. August zustande.

Dieser Krieg ist nicht für die Wohlfahrt des deutschen Volkes entbrannt. Er ist kein deutscher Verteidigungskrieg und kein deutscher Freiheitskrieg, sondern ein kapitalistischer Angriffs- und Eroberungskrieg. Er ist kein Krieg für eine höhere "Kultur"; die größten Staaten gleicher "Kultur" bekämpfen einander, und zwar gerade, weil sie Staaten der gleichen, das heißt der kapitalistischen "Kultur" sind.

Unter Anrufung des Gottes der Nächstenliebe wird Zerstörung und Vernichtung über die Erde getragen, so der barbarische Kern der kapitalistischen Gesellschaft enthüllt und alles Gerede von Kultur und Christlichkeit dem Gespött ausgeliefert. "Christliche" Regierungen entfesseln den "heiligen Krieg" des Islam gegen die Christenheit und begeistern sich an ihm.

Unter der trügerischen Flagge eines Nationalitäten- und Rassenkriegs wird ein Krieg geführt, bei dem in beiden Lagern das bunteste Nationalitäten- und Rassengemisch aufgeboten ist.

Die Parole "Gegen den Zarismus" diente nur dem Zweck, die edelsten Instinkte des deutschen Volkes für den Kriegszweck, für den Völkerhaß zu mobilisieren, nicht aber einem Befreiungsfeldzug für das russische Volk oder die Fremdvölker Rußlands. Deutsches Kapital hat Rußlands Rüstungen auf ihre jetzige Höhe gebracht. Deutschland hat die äußere Politik Rußlands in wichtigsten Momenten unterstützt; noch 1910 lieferte die Potsdamer Entrevue Persien, auf dessen Erhebung die deutschen Staatsmänner heute sehnsuchtsvoll harren, an Rußland und England auf Halbpart aus. Kein Staat der Welt hat das zarische Schreckensregiment gegen das geknechtete russische Volk so gestützt wie Deutschland. Deutschland ist der Mitschuldige des Zarismus bis zum heutigen Tage. Die deutsche Regierung stand bereit selbst zur militärischen Hilfe für den Blutzaren gegen die große russische Revolution. Deutschland, in dem die Masse des Volkes wirtschaftlich ausgebeutet, politisch unterdrückt, rechtlos ist, wo fremde Nationalitäten durch Ausnahmegesetze drangsaliert werden, hat keinen Beruf zum Völkerbefreier. Die Befreiung des russischen Volkes muß dessen eigene Sache sein; die Befreierrolle Deutschlands wird von ihm voll Mißtrauen abgelehnt.

In der inneren Politik wurde sofort nach Kriegsausbruch unter Verhängung des Belagerungszustandes mit den äußersten Mitteln der Unterdrückung vorgegangen. Scheinbare Erleichterungen, die man der Arbeiterbewegung zuteil werden ließ, sind nur die Kehrseite ihrer Wehrlosmachung und verfolgen den Zweck, sie in den Dienst des Militarismus zu stellen. Die Parteien wurden für aufgehoben erklärt - die politische Unterdrückung, Wahlunrecht und Ausnahmegesetz blieben bestehen, nicht einmal die Schande des preußischen Dreiklassenwahlrechts ist ausgetilgt. Vom Klassenkampf zu sprechen wurde verboten - die Klassengegensätze blieben bestehen. Der Befreiungskampf des Proletariats wurde entwaffnet - an der politischen Unterdrückung und wirtschaftlichen Ausbeutung wurde nichts geändert. Der höchst einseitige Burgfriede, den man verkündete, ist nichts als eine stilistische Umschreibung der Worte Belagerungszustand und politische Kirchhofsruhe. Das Postulat "Es gibt keine Parteien mehr!" bedeutet nur: Anerkennung des Proletariats als gleichberechtigtes Kanonenfutter. Was können wir von denen erwarten, die nicht einmal in diesen Tagen sich auf ihre politische und soziale Pflicht gegenüber der Masse des Volkes besonnen haben?

Zur Steuerung der außerordentlichen Not, die große Teile der Bevölkerung heimgesucht hat, ist nichts Hinreichendes geschehen. Die Versorgung der Angehörigen der Soldaten ist unzulänglich, nicht minder die Arbeitslosenfürsorge. Der Mieternot muß abgeholfen werden. Die staatliche Organisation der Lebensmittelversorgung läßt alles zu wünschen übrig; die Steigerung der Lebensmittelpreise heischt eine solche Organisation gebieterisch. Diese Steigerung muß bei Bemessung der Unterstützungssätze berücksichtigt werden. Für angemessene Unterkunft, Heizung und Beleuchtung muß gesorgt werden. Die bevorstehenden Wintermonate werden das deutsche Volk auf die schwerste Probe stellen, entschlossenes Eingreifen ist unverzüglich geboten, ohne Rücksicht auf den Widerspruch gewisser Interessentenkreise, die diese Zeit der Not für ihren persönlichen Vorteil auszunützen suchen.

Die Art der Kriegführung fordert unsern leidenschaftlichen Widerspruch heraus.

Die Proklamation des Grundsatzes "Not kennt kein Gebot" entzieht allem Völkerrecht den Boden.

Die Mißachtung der belgischen Neutralität kann durch nichts entschuldigt werden. Wir erheben schärfsten Protest gegen diesen Bruch feierlicher Verträge, gegen den Überfall auf ein friedliches Volk. Mißlungen sind alle Versuche, diese grobe Vergewaltigung nachträglich durch frühere Maßnahmen der belgischen Regierung zu rechtfertigen, die zur Sicherung der Neutralität gegen den bereits bekannten Plan eines deutschen Durchmarsches dienten.

Wir verdammen die grausame Behandlung der Zivilbevölkerung auf den Kriegsschauplätzen, und zwar nicht nur in Feindesland, sondern auch in deutschen Gebieten. Wenn sich die Zivilbevölkerung, wie es allenthalben geschieht, in einzelnen Fällen am Kampf beteiligt, so sind das zumeist Akte der Verzweiflung, in Unkenntnis der völkerrechtlichen Vorschriften verübt. Ihre moralische Verfemung ist voll Heuchelei. Die summarische Entscheidung über die ungeheuren Repressalien dagegen ist verhängnisvollen Irrtümern unterworfen. Zahlreiche Unschuldige haben dabei in grauenhafter Weise mitbüßen müssen. Die Verwüstung und Einäscherung ganzer Ortschaften, die Niedermetzelung Wehrloser ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht, die unter Anwendung abscheulicher Mittel vielfach erfolgt ist, die Methode, Unbeteiligte als Geiseln zu nehmen und zu exekutieren, nötigt zur schwersten Anklage. Die gleiche Schuld der Armeen anderer Länder bildet keine Entlastung.

Jeder Versuch einer Humanisierung der Kriegsgreuel hat sich als ein greller Widerspruch in sich selbst offenbart. Die Genfer Konvention ist zu einem Kindergespött geworden, die Menschheit rebarbarisiert. Zur Verschärfung des Völkerhasses werden die wildesten Gerüchte über angebliche feindliche "Greuel" ausgeschlachtet, die sich die kriegführenden Parteien gegenseitig vorwerfen. Wir machen der Regierung den Vorwurf, daß sie diese fortgesetzte Aufstachelung der öffentlichen Meinung duldet.

Lebhaft bedauern wir die Mißstände, die die Versorgung der Kriegsgefangenen noch in allen Ländern, Deutschland nicht ausgenommen, aufweist. Wir fordern, daß die Regierung energisch und ohne Verzug für Unterbringung in gesunden und reinlichen Räumen, die heizbar und angemessen zu erwärmen sind, für gehörige Lagerstätten und Kleidung, Wäsche und Waschgelegenheit, für ausreichende Ernährung und gute Behandlung der feindlichen Kriegsgefangenen sorgt und scharfe Kontrolle übt. Den Gefangenen ist nach Möglichkeit Arbeitsgelegenheit zu gewähren. Wir setzen als selbstverständlich voraus, daß in den übrigen kriegführenden Staaten gleiche Vorsorge getroffen wird, und erwarten eine schleunige Verständigung darüber, in der die Kontrolle den neutralen Staaten zu übertragen ist und ein Schiedsverfahren vorgesehen werden muß. Wir lehnen es als den Grundsätzen der Menschlichkeit zuwiderlaufend ab, an den wehrlosen feindlichen Gefangenen Vergeltung für etwaige Sünden anderer Staaten zu üben. In Friedenszeiten hat sich die deutsche Regierung durch Mißhandlungen deutscher Reichsangehöriger in Rußland niemals in ihrer Konnivenz gegenüber dem Zarismus stören lassen.

Tief zu beklagen ist die Art, in der die zivilen Angehörigen der feindlichen Staaten vielfach behandelt worden sind und noch behandelt werden. Auch in Deutschland lag hier in den ersten Kriegs- wochen vieles im argen. Wir anerkennen, daß sich später die deutschen Behörden bemüht haben, menschliche Grundsätze durchzuführen. Wir bedauern, daß sie in den letzten Wochen infolge einer reaktionären Hetze zur Anwendung des durchaus abzulehnenden Vergeltungsprinzips geschritten sind. Wir erwarten auch hier eine unverzügliche internationale Regelung im Geiste der Humanität.

Nach den Erklärungen, die die Regierung bis zum 4. August d. J. abgab, sollen keine Eroberungen gemacht werden. Die Zwischenzeit hat auch den Vertrauensseligsten gelehrt, was von diesen Erklärungen zu halten ist. Eine unverfrorene Annexionshetze wird geduldet, wenn nicht indirekt gefördert, während ihre Bekämpfung unter Vorwänden rücksichtslos und konsequent verhindert wird. Die offiziell kundgegebene Formel vom gesicherten Frieden ist deutlich im Sinne der Annexionspolitik zu verstehen.

Wir lehnen jede Annexion grundsätzlich und entschieden ab, da sie gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker verstößt und nur kapitalistischen Interessen dient. Die Zukunft der breiten Masse des deutschen Volkes in einem deutschen Weltreich nach englischem Muster zeigt sich in der heutigen sozialen Lage der englischen Bevölkerung. Jede Annexion bedeutet eine Vermehrung der innerpolitischen Schwierigkeiten. Jeder Friede mit Eroberungen würde - weit davon entfernt, eine Friedenssicherung zu sein - vielmehr eine Ära des verschärften Wettrüstens einleiten und einen neuen Krieg im Schoße tragen. Pflicht eines jeden Sozialdemokraten ist es, mit allem Nachdruck gegen diese Pläne anzukämpfen.

Wir empfinden mit den Söhnen des Volkes, die im Felde übermenschliches an Tapferkeit, Entbehrung, Aufopferung leisten. Wir empfinden mit ihnen als mit unserem eigenen Fleisch und Blut, für das wir, wenn die Zeit kommen wird, unerbittlich Rechenschaft fordern werden. Um so mehr aber verwerfen wir diesen Krieg; um so mehr gebietet uns die Pflicht gegenüber dem deutschen Volk und der ganzen Menschheit, die Pflicht gegenüber dem internationalen Proletariat, das trotz alledem unlöslich zusammengehört, mit allen unseren Kräften der Völkerzerfleischung entgegenzuwirken.

Dem Regierungsprogramm einer Fortsetzung des Krieges bis zu einem durch Eroberung gesicherten Frieden stellen wir entgegen die Forderung eines schleunigen, für keines der Länder demütigenden Friedens. Wir begrüßen die Friedensbemühungen der neutralen Mächte und danken unseren Freunden in den neutralen Staaten für ihre wertvolle Initiative. Ein ablehnendes Verhalten Deutschlands würde nur den Zielen der Annexionspolitik dienen und dem an langer Kriegsdauer interessierten Rüstungskapital entgegenkommen, dessen Vaterlandslosigkeit vor wenigen Wochen inmitten des Krieges öffentlich, amtlich gebrandmarkt werden mußte. Wir verlangen, daß die deutsche Regierung den Anregungen der Neutralen bereitwillig folgt, so wie wir ein gleiches von den anderen Staaten erwarten.

Wir warnen die Regierungen und die herrschenden Klassen aller kriegführenden Länder vor der Fortsetzung des blutigen Gemetzels. Wir rufen das deutsche Volk und die Völker der anderen kriegführenden Staaten auf, sich zu erheben gegen den Wahnwitz, in dem sie ihr bestes Blut für ihre Ausbeuter und Unterdrücker verspritzen. Im Namen der Ausgebeuteten und Entrechteten fordern wir ein Ende dem Völkermord. Wir hoffen, daß der Tag bald kommen wird, an dem die Proletarier im Felde erklären werden: Wir schießen nicht mehr aufeinander! Wo sie sich über die blutgetränkten Schlachtfelder die Hände reichen und die Macht des mordgebietenden Militarismus an dem Felsen der internationalen Brüderlichkeit zerschellt.

Indem wir Protest erheben gegen den Krieg, seine Verantwortlichen und Regisseure, gegen die kapitalistische Politik, die ihn heraufbeschwor, gegen die Annexionspläne, gegen den Bruch der belgischen Neutralität, gegen die Unmenschlichkeit der Kriegführung, gegen die Militärdiktatur, gegen die soziale und politische Pflichtvergessenheit, deren sich die herrschenden Klassen auch und gerade j etzt schuldig machen, lehnen wir die geforderten Kredite ab.


Anhang

Die einfachen Thesen, auf die allein die Internationale wieder aufgebaut werden kann und die ein dauerndes Fundament für sie abgeben können, sind:

1. Es kann heute, in der Ära der imperialistischen Weltpolitik, die das politische Leben und die Geschicke aller Staaten beherrscht, keine wirklichen nationalen Kriege mehr geben. Jeder Krieg ist heute in seinem Wesen ein imperialistischer Krieg im Interesse der kapitalistischen Ausbeutung, der herrschenden Dynastien und der Reaktion.

2. Die - nur unter außergewöhnlichen Umständen in Frage kommende - Verteidigung des Vaterlandes kann einzig durch Einführung der Miliz an Stelle der stehenden Heere, durch Entscheidung des Volkes über Krieg und Frieden, also auch über Beendigung des Krieges und Bedingungen des Friedens, endlich durch sofortige Abschafflmg aller politischen Entrechtung und Privilegien und durch Unantastbarkeit der verfassungsmäßigen Freiheit im Lande gesichert werden. Nur unter diesen Bedingungen kann die Partei des Proletariats die Verteidigung des Landes übernehmen und unterstützen.

3. Solange diese Bedingungen nicht erfüllt sind, ist jeder Krieg, gleichviel, welches sein Anlaß und mit wessen Sieg oder Niederlage er endet, ein Attentat gegen die Interessen der Arbeiterklasse in allen Ländern und seine Unterstützung ein Verrat an diesen Interessen.

4. Der Klassenkampf im Innern der kapitalistischen Staaten wie die internationale Solidarität der Arbeiter aller Länder sind das Lebensprinzip des Sozialismus und der proletarischen Politik. Sie wirken gleich stark im Frieden wie im Kriege und können nicht im Kriege suspendiert werden. Der sogenannte "Burgfrieden" ist eine Falle, die dem Proletariat von den herrschenden Klassen gestellt wird, um es zum aktiven Werkzeug ihrer Politik zu machen.

5. Die Lebensinteressen des Proletariats in allen Ländern sind gleich und gemeinsam. Sie erfordern, daß die Proletarier aller Länder durch kraftvollste Entfaltung des Klassenkampfes ihre Anstrengungen vereinigen, um die barbarische Menschenschlächterei so bald als möglich zu beenden und den kriegführenden Regierungen ihren gemeinsamen Friedenswillen aufzuzwingen.



deutsch-französische Friedenskundgebung


Karl Liebknecht


Der Hauptfeind


Letzte Änderung: 17. May. 2001, Adresse: /deutsch/kldecd.html